Das stimmt, obwohl die neue Staatsform doch einen massiven Einschnitt darstellt. Viele Errungenschaften der Monarchie waren tatsächlich richtungsweisend. So war das Habsburgerreich der erste europäische Staat, der 1912 den Islam als dem Christentum gleichwertige Religion anerkannte. Solche Traditionen sollten wir uns viel stärker ins Bewusstsein rufen, um deutlich zu machen, dass nicht alles in der Monarchie morsch und überkommen war. Gerade, was das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten anlangt, war dieser Staat oft vorbildlich und innovativ, etwa in der Sprachen- und Bildungspolitik. Das gilt auch im Bemühen, Regeln für die Autonomie nationaler Minderheiten in einem größeren Ganzen zu entwickeln, deren wir uns heute gar nicht mehr bewusst sind; das betrifft zum Beispiel nicht-territoriale Konzepte für Gruppen, die über größere Räume verteilt leben. Diese Lösungen können heute für Europa wieder wertvoll werden, keineswegs nur für ethnische Minderheiten, sondern auch für religiöse, gerade im Hinblick auf den Islam.
Wenn man allerdings die religiöse und ethnische Toleranz der späten Monarchie betont, darf man auch nicht vergessen, dass ihre Entstehung auf Intoleranz beruhte. Die Gegenreformation im 16. und 17. Jahrhundert drängte den Protestantismus an den Rand, oft gewaltsam, um über den Katholizismus und das Haus Habsburg dem heterogenen Reich eine gemeinsame Identität zu verpassen.
Am Ende zerbrach das Vielvölkerreich an einem Mangel an gemeinsamer Identität. Welche Lektionen hält das Scheitern der Monarchie für das Europa der Gegenwart und Zukunft bereit?
Entscheidend war am Ende, dass zentrifugale Kräfte wie der Nationalismus eine so extreme Wirkkraft entfalten konnten. Eine Lektion ist sicher die Bedeutung gemeinsamer Symbole, wie sie das Kaisertum und die Person des Kaisers darstellten; wichtig ist zudem Konsens im Hinblick auf die gemeinsame Vergangenheit. Beide Faktoren können helfen, eine Identität zu entwickeln. Ansatzweise erfüllen die gemeinsamen europäischen Institutionen bereits diese Rolle, etwa das EU-Parlament samt entsprechenden Wahlen, der Europäische Gerichtshof oder "Brüssel" als Synonym für eine europäische Hauptstadt. Auch ein gemeinsamer Feind kann helfen, dass sich Gemeinschaften enger zusammenschweißen. Für die Monarchie spielten die Türken eine wichtige Rolle. So gesehen ist es durchaus möglich, dass Europa auch heute ganz schnell zusammenrückt, wenn etwa der Schutz der USA wegfällt und eine feindliche Macht die Union bedroht. Das kann sehr, sehr schnell gehen.
In der Regel benötigt das Zusammenwachsen aber lange Zeit, das zeigen alle historischen Beispiele. Die Habsburgermonarchie entstand aus den österreichischen Erblanden, Ungarn und Böhmen 1526. Es hat 150 Jahre und mehr gedauert, bis man überhaupt einen gemeinsamen Namen für dieses Gebilde gefunden hatte. Die EU ist im Vergleich dazu immer noch unglaublich jung. Da sollten wir uns nicht verrückt machen, wenn die Dinge dauern oder einzelne Mitglieder wieder ausscheiden. So ein Prozess benötigt Generationen, und auch Rückschläge gehören dazu. Der Kern der EU ist aus meiner Sicht aber bereits in einem Ausmaß zusammengewachsen, dass sich die Menschen hier gar keine andere Alternative mehr vorstellen können.
Es gibt die These, dass im Ausgleich mit Ungarn von 1867, der die Monarchie zur Doppelmonarchie machte und die gemeinsamen Institutionen schwächte, der Keim zum späteren Scheitern angelegt wurde. Wenn das stimmt, was bedeutet dies für die immer wieder auftauchende Idee eines Europa der zwei Geschwindigkeiten?