Ungarn hatte von Anfang an immer eine Sonderrolle, es war nie ganz integriert. Das hängt mit den stark libertären Traditionen des ungarischen Adels zusammen, mit der Sprache und der sehr frühen Nationsbildung. All dies wirkt bis heute, wie die aktuelle Rolle Ungarns in der EU zeigt. Es gibt hier eine starke Tradition der Selbstständigkeit und des Miteinanders, und diese Kräfte haben auch zum Ausgleich 1867 geführt, der durchaus der Versuch einer politischen Lösung für den ungarischen Nationalismus war. Die Möglichkeit des Scheiterns besteht immer, das muss sich auch die heutige Union eingestehen. Wichtig ist, sich die nötige Zeit zuzugestehen. Gerade die Staaten Osteuropas sind mit einer völlig anderen Geschichte Mitglieder der EU geworden. Hier besteht eine viel stärkere Skepsis gegenüber einer noch stärkeren Integration, als sich die westlichen Staaten oft bewusst sind.
Die Dringlichkeit, mit der wir über Europa reden, hängt mit dem Gefühl zusammen, dass uns die Zeit davonläuft. Es fällt schwer, in den langen Zeiträumen der Vergangenheit zu denken. Wie reagiert darauf ein Historiker, der weiß, dass solche Entwicklungen trotzdem Generationen dauern und nicht Jahre?
Wir leben in einer Zeit des unglaublich beschleunigten Wandels, alles dreht sich immer schneller. Der Rückblick auf die Vergangenheit kann da Sicherheit geben, deshalb werden auch runde Jubiläen und Jahrestage immer intensiver gefeiert. Und daraus wiederum kann, wie bereits gesagt, Identität entstehen. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass wesentliche Ereignisse der Geschichte von unterschiedlichen Staaten unterschiedlich verstanden werden: 1945 bedeutete für Westeuropa die Befreiung von der Nazi-Herrschaft und für Osteuropa den Beginn einer neuen Unterdrückung, diesmal durch die Sowjets. Das muss man nicht nur wissen, sondern auch berücksichtigen.
Im Wien des "Fin de Siècle" wurden Malerei und Architektur revolutioniert, die Psychoanalyse aus der Taufe gehoben, blühten Literatur und Naturwissenschaften. Wien stand damals auf einer Ebene mit Paris und London und vor Berlin. Wie ist es zu erklären, dass eine dem Untergang geweihte Gesellschaft an ihrem Ende eine Explosion kultureller und wissenschaftlicher Leistungskraft hervorbringt?
Spitzenleistungen in der Kunst finden tatsächlich oft in krisenhaften Zeiten statt. Wenn ein Umbruch auf vielen Ebenen sich anbahnt, dann regt das auch die Kreativität künstlerischer Geister an. Für die Wissenschaft ist stets entscheidend, dass sie über die notwendige Freiheit und Mittel verfügt. Beides war in der späten Phase der Monarchie gegeben. Und es schadet sicher nicht, wenn wir in Österreich die Erinnerung wachhalten, dass wir sehr wohl zu großen wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen imstande sind.