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Abgesessene Jugend

Von Michael Ortner und Matthias Winterer

Christian sitzt im Maßnahmenvollzug. Er gilt als gefährlich. Wann er freigelassen wird, weiß er nicht.
© Luiza Puiu

Was soll ein Staat mit seinen kriminellen Jugendlichen machen? Um die Frage ist ein Glaubenskrieg entbrannt. "Wegsperren", sagen die einen, "therapieren", die anderen. Österreich ist eifrig am Wegsperren. Ein Besuch im größten Jugendgefängnis des Landes.


Der Riegel fällt ins Schloss. Dann ist es still - und Marco allein. Er sitzt auf dem Bett und starrt auf die Tür. Er kennt sie in- und auswendig. Die weiße Fläche aus kaltem Stahl. Wie ein Kartograf hat er ihre Oberfläche analysiert. Jeden Kratzer. Jede Delle. Jeden gelbstichigen Fleck. Jemand hat mit Filzstift einen Smiley auf den weißen Lack gekrakelt. Spöttisch grinst er Marco an. Der Metallgriff auf der rechten Seite lässt sich keinen Millimeter bewegen. Die Tür ist zu. Marco drückt auf den Power-Knopf des Radios. Leise Popmusik säuselt aus den Lautsprechern. Er seufzt.

Marco ist Insasse der Justizanstalt Gerasdorf. Das Gefängnis hat eine Sonderstellung in Österreich. Hier sind die jüngsten männlichen Straftäter der Republik inhaftiert. Die meisten von ihnen sind zwischen 14 und 21 Jahre alt. Ihre Haare sind seitlich geschoren, ihre Shirts bunt, ihre Arme tätowiert. Sie reißen Witze, verspotten sich gegenseitig, lachen, stehen in Cliquen im Gefängnisgang herum. Sie stecken mitten in der Pubertät. An ihren Zellenwänden hängen Poster von Messi, Ronaldo und Alaba. Sie hören Hip Hop. Sie denken an Mädchen. Sie sind wie alle anderen Jugendlichen auch. Doch statt mit Freunden Fußball zu spielen, zu tanzen, sich zu verlieben, starren sie auf Zellentüren. Sie haben ihr Recht auf Freiheit schon in jungen Jahren verloren.

Österreich sperrt Jugendliche eifrig ein

Der 14. Geburtstag markiert in Österreich eine Zäsur. Er macht aus Kindern Jugendliche. Nun lässt der Staat keine Milde mehr walten. Jugendliche haben sich vor dem Gesetz zu verantworten, sie sind deliktsfähig - und strafbar. Der Rechtsstaat kann entscheiden, sie von der Gesellschaft auszuschließen, sie einzusperren. Die drastische Maßnahme des Freiheitsentzugs ist die "Ultima Ratio", die letzte und härteste Strafe der österreichischen Justiz. Österreich sperrt Jugendliche eifrig ein. In kaum einem anderen Land in Europa sind – gemessen an der Einwohnerzahl – mehr Jugendliche und junge Erwachsene inhaftiert. Derzeit sitzen 143 Burschen und zehn Mädchen unter 18 Jahren hinter Gitter. Rund 450 Gefangene sind junge Erwachsene, also zwischen 18 und 21 Jahre alt.

Doch ist die Haft als Strafe für Jugendliche immer noch zeitgemäß? Ist es moralisch legitim, Jugendliche einzusperren? Ist es sinnvoll? Und wenn ja, für wen? Die Frage, was eine Gesellschaft mit ihren kriminellen Jugendlichen machen soll, polarisiert. "Wegsperren", sagt die türkis-blaue Bundesregierung. Sie überlegt, junge Erwachsene gleich hart zu bestrafen wie Erwachsene. "Therapieren", halten Humanisten entgegen. Doch die Debatte ist komplexer. Sie tangiert die moralischen Glaubenssätze unserer Gesellschaft genauso wie unsere Vorstellungen von Erziehung, Recht und Sicherheit.

Die Zelle von Marco misst acht Quadratmeter. Von18:00 Uhr abends bis 7:00 Uhr morgens ist er dort allein.
© Gregor Kuntscher

Vier große Schritte kann Marco nach vorne machen, zwei zur Seite. Seine Zelle misst acht Quadratmeter. Bett, Schrank, Kloschüssel, Waschbecken, Dusche, grauer Linoleumboden. Durch das engmaschig vergitterte Fenster sieht er die Gefängnismauer. Eine graue Betonwand. "Freiheit" steht in bunten Lettern auf ihrem Sockel. Von 18:00 Uhr abends bis 7:00 Uhr morgens ist Marco in der Zelle allein. 13 Stunden. Tag für Tag. An der Wand klebt ein selbst gebastelter Kalender. Jeden abgesessenen Tag streicht er durch. 539 Tage liegen noch vor ihm. "Eineinhalb Jahre noch", murmelt Marco. "Aber dieses Mal habe ich es verdient hier zu sein. Ich habe wirklich Scheiße gebaut."

Was hat Marco hierhergebracht? Warum hockt er hinter Gittern, während sich seine Freunde draußen eine eigene Existenz aufbauen, arbeiten gehen, feiern, allmählich erwachsen werden?

Nicht bestrafen, sondern erziehen

Die Antwort der Justiz ist einfach und trocken: Marco hat sich rechtswidrig verhalten. Er hat sich nicht an das Regelwerk unserer Gesellschaft gehalten. Dafür zieht der Rechtsstaat Konsequenzen. Die Konsequenz ist im Strafgesetzbuch festgeschrieben und richtet sich nach Art und Schwere der Straftat. Die Schwere der Straftat wird vor Gericht in einen Zeitraum umgerechnet, der uns für angemessen erscheint, den Verurteilten einzusperren. Nicht, um Marco zu bestrafen, sondern um ihn zu erziehen und von weiteren Straftaten abzuhalten, wie es im Jugendgesetzbuch heißt. Darum ist Marco hier.

Marcos Antwort kommt jener der Justiz erstaunlich nahe. "Ich habe mich dämlich verhalten", sagt er. "Eine komplett sinnlose Dummheit hat mich hierhergebracht." Gemeinsam mit einem Freund ist er in Vereinshäuser, Firmen, sogar in ein Fußballstadion eingestiegen. Sie haben Elektrogeräte und Bargeld gestohlen. Es war nicht die erste Straftat in Marcos Leben. Mit seinen 20 Jahren hat er es auf ein beachtliches Vorstrafenregister gebracht. Betrug, Drogenhandel, Körperverletzung, Raub. "Wegen meiner vielen Vorstrafen habe ich eine hohe Haftstrafe ausgefasst", sagt er. Darum ist Marco hier.

Jeden Tag streicht Marco im Kalender durch. 539Tage liegen noch vor ihm.
© Gregor Kuntscher

Das ist der Grund für seine Inhaftierung. Auf eine Straftat folgt eine Verurteilung. Die übliche Mühle der Justiz, die aus Verdächtigen Insassen macht. Doch weder Gericht noch Marco selbst stellen die Frage, warum er zum Betrüger, zum Dealer, zum Gewalttäter, zum Räuber wurde. Die Frage nach der Ursache, warum er die Rechtsnormen unserer Gesellschaft bereits als Jugendlicher immer wieder verletzt, bleibt offen. Sie wäre für das erzieherische Ziel der Haft essenziell.

Erziehung genoss Marco bisher kaum. Seine Eltern vernachlässigen ihn. Mit sieben Jahren kommt er in das Sozialpädagogische Betreuungszentrum in Hinterbrühl in Niederösterreich. Mit 14 bezieht er seine erste eigene Wohnung. Er ist völlig auf sich allein gestellt, hat keine einzige erwachsene Bezugsperson. "Außer meine älteren Freunde", sagt Marco. "Ich war 14, sie waren 17, 18 Jahre alt." Er nimmt die Drogen, die sie ihm anbieten, beginnt mit ihnen zu dealen, wird schnell aggressiv, prügelt sich immer wieder. "Ich war ein Kind, ich habe es nicht einmal geschafft, regelmäßig Klopapier zu kaufen." Verstohlen blickt er durch die gelbe Hornbrille, die Adidas-Kappe tief ins Gesicht gezogen. Seinen Handrücken überzieht ein tätowiertes Ornament. Eine Chiffre vergangener Tage.

Mit der Vergangenheit habe er abgeschlossen, seine Freundschaften gekündigt. Die Zeichen stehen auf Neubeginn. "Ich will mit meinem alten Leben nichts mehr zu tun haben. Ich will mit meiner Freundin ein normales Leben führen", sagt er und zeigt auf ein Foto auf der Zellenwand. Eine junge Frau mit pink gefärbten Haaren lächelt in die Kamera. Nach der Haft will er zu ihr an den Neusiedlersee ziehen. Weg von Wien. Weg vom Schauplatz seiner kaputten Kindheit.

Biographien von Gewalt geprägt

"Kein einziger Insasse von Gerasdorf hatte eine geborgene Kindheit", sagt Margitta Neuberger-Essenther. "Marcos Geschichte ist exemplarisch für nahezu jeden Jugendlichen hier." Die Leiterin der Justizanstalt sitzt in einem Ledersessel in ihrem großzügigen Büro und nippt an einer Tasse Kaffee. Neuberger-Essenther könnte auch die Direktorin eines humanistischen Gymnasiums sein: schwarze Hornbrille, schlichte Halskette, gelbgrüne Bluse, die Haare zu einem Knoten gebunden. Im Regal stehen Bücher, die Titel wie "Der fehlentwickelte Jugendliche", "Leben mit Kindern" oder "Aggressionen" tragen. Die studierte Psychologin arbeitet seit 37 Jahren mit straffälligen Jugendlichen, erst am Jugendgerichtshof, seit 16 Jahren in Gerasdorf.

"Die Geschichten der Häftlinge sind durch die Bank desaströs", sagt sie. Kaum einer, der nicht seelisch und körperlich misshandelt wurde. Gewalt zieht sich durch die Lebensläufe. Prügelnde Väter, heroinabhängige Mütter, Verwahrlosung, Liebesentzug. Babys, denen schon in der Wiege die Arme gebrochen wurden. "Was erwarten sie sich von diesen Kindern? Ihnen wurde nichts anderes vorgelebt. Sie wissen nicht, was eine tragfähige Beziehung ist", sagt Neuberger-Essenther. "Sie sind sich selbst nichts wert, keiner von ihnen hat ein gefestigtes Selbstwertgefühl. Das wurde ihnen ausgetrieben."

Margitta Neuberger-Essenther leitet das Jugendgefängnis Gerasdorf seit 16 Jahren.
© Luiza Puiu

Die hohe Gewaltbereitschaft, die Aggressivität, die Empathielosigkeit vieler Insassen kommen nicht von irgendwo, sie waren notwendig, um die Kindheit zu überstehen. Sozial- und Schulsystem haben bei den Jugendlichen von Gerasdorf versagt. "Die Kids, die hier sind, haben alle irgendein Defizit, dass nicht rechtzeitig von den Erwachsenen, von der Schule, von der Gesellschaft erkannt wurde. Niemand hat entgegengesteuert," sagt sie. "Und jetzt sperren wir sie ein und wollen nichts mehr von ihnen hören. Der Freiheitsentzug ist für Jugendliche das Schlimmste, was ihnen passieren kann."

Im Gefängnis herrscht Schul- und Arbeitspflicht

Einer der Gründe, warum wir Jugendliche einsperren, ist, sie zu resozialisieren. Sie sollen im Gefängnis wieder zu einem wertvollen Teil der Gesellschaft werden. Aber kann das funktionieren, indem wir sie von der Gesellschaft ausschließen? Kann die totalitäre Institution Gefängnis Menschen sozialer machen? "Bedingt", sagt Neuberger-Essenther. "Mit unseren bescheidenen Möglichkeiten versuchen wir ihre Entwicklung ein Stück weit positiv zu beeinflussen. Wir wollen ihnen das geben, was sie in Freiheit nie hatten - Selbstwertgefühl, Beziehung, Perspektive."

Der Schlüssel zum Erfolg ist Bildung. Die Jugendlichen von Gerasdorf sollen sich mit sich selbst und ihrer Umwelt auseinandersetzen und so kompetentes und verantwortungsvolles Handeln erlernen. Deshalb führt sie der Weg zurück in die Gesellschaft unweigerlich durch die Institution Schule. Jeder von ihnen muss sich weiterbilden. Keiner darf faulenzen. Im Gefängnis holen sie ihren Pflichtschulabschluss nach, lernen in einer von 15 Lehrwerkstätten, wie man Brot bäckt, Wände anstreicht, Autos repariert, Möbel baut, Haare schneidet.

Rund 150 Jugendliche sitzen in Österreichs Gefängnissen.
© Luiza Puiu

Branislav grinst über das ganze Gesicht. Er hat die vierte Klasse Hauptschule erfolgreich abgeschlossen. Monatelang hat er gelernt, hat Flächen berechnet, Aufsätze geschrieben, Vokabel gestrebert. Noch vor einem Jahr wurde Branislav abgeschrieben - von seinen Eltern, den Verwandten, den Lehrern. Der Schulabschluss war undenkbar. Heute sitzt der 17-Jährige im Friseursalon des Gefängnisses und beginnt eine Lehre. Stolz frisiert er eine Perücke. Schon in wenigen Wochen wird er die Haare seiner Mithäftlinge schneiden. "Ich freue mich, wenn ich zur Zeugnisverteilung in diese strahlenden Bubengesichter schaue", sagt Neuberger-Essenther. "Plötzlich haben sie eine Perspektive – oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie merken langsam, dass sie etwas wert sind. Sie beginnen sich zu öffnen, knüpfen echte Beziehungen."

In einer Justizanstalt ist der Wachbeamte dem Häftling am nächsten. Michael Heiling trägt ein kariertes Hemd in verlaufenden Orangetönen, Sneakers, Jeans. Der stellvertretende Justizwachekommandant arbeitet seit 25 Jahren in der Justizanstalt. Die Beamten in Gerasdorf sind nicht uniformiert und unbewaffnet. Schusswaffen würden innerhalb der Gefängnismauern ein zu hohes Risiko darstellen. Außerdem wären sie unnötig. Auf Michael Heilings Gürtel baumelt lediglich ein Pfefferspray. Benutzt hat er auch den noch nie. "Ich glaube, ich war noch nie wirklich gefährdet", sagt er. "Natürlich könnten mich die Jungs jederzeit zusammenschlagen. Sie sind jung, stark und in der Überzahl. Aber warum sollten sie das tun?"

Zu Justizwachebeamten wie Michael Heiling bauen die Häftlinge oft die ersten Beziehungen auf.
© Gregor Kuntscher

Heilings Waffen sind nicht Schlagstock, Pistole, Elektroschocker. Heilings Waffen sind Schmäh, Auftreten, Respekt. Er wirkt wie der Fußballtrainer einer Jugendmannschaft, reißt Witze, klopft Schultern, ermahnt. "Es geht darum, auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren", sagt Heiling. Er lässt dabei aber nie Zweifel aufkommen, wer schlussendlich das Sagen hat.

Beamte sind Freund und Feind zugleich

Wenn Heiling mit den Insassen spricht, nennt er sie beim Nachnamen und duzt sie gleichzeitig. "Ich bring dir eine Zeitung mit, Aigner", sagt er, oder: "Vacanajew, geh bitte in deine Zelle." Das vermittelt ein gewisses Maß an Vertrautheit, erzeugt aber auch die nötige Distanz, die es braucht, um als Respektsperson anerkannt zu werden. Denn für die Jugendlichen ist der Justizwachebeamte beides - Beistand und Bewacher, Gefährte und Gegner, Freund und Feind. Er ist Teil des Systems, das sie hier einsperrt und wichtige Bezugsperson gleichzeitig. Zu Beamten wie Heiling bauen die Jugendlichen oft die ersten, wenn auch fragilen Beziehungen auf. Er und seine Kollegen sind für sie ein Gradmesser: Entspricht das, was wir tun, dem, was die Gesellschaft draußen von uns verlangt?

Heiling spaziert über den Gefängnishof. Die grauen Trakte sind durch rissige Asphaltwege miteinander verbunden. Sie führen an einer kalten Lagerfeuerstelle vorbei. "Hier wurde schon jahrelang kein Feuer mehr gemacht", sagt Heiling. Die Zeiten hätten sich geändert. Es mangelt an Personal, an Zeit, aber auch an der pädagogischen Einstellung. Früher hätten die Beamten einen väterlichen Zugang zu den Jugendlichen gepflegt. "Sie waren daran interessiert, etwas mit den Burschen zu unternehmen." Doch der erzieherische Gedanke ist verloren gegangen. Wie es den Jugendlichen heute geht, ist vielen Beamten gleichgültig. Betreuung? Ist nicht wichtig. Einsperren lautet die Devise. "Der Heim-Spirit ist flöten gegangen", sagt Heiling resigniert. Außerdem sind die Justizwachebeamten im Schnitt 50 Jahre alt, das sei nicht mehr adäquat für den Jugendvollzug.

Das Gefängnis ist ein System der Unfreiheit. Darin sollen die Jugendlichen auf die Freiheit vorbereitet werden.
© Luiza Puiu

Heiling nimmt die Stufen zu Abteilung B. Vor einer geschlossenen Tür bleibt er stehen. Es surrt, der Kollege im Wachzimmer lässt ihn hinein. Rechts und links: Zwei Türen zu jeweils einem Flügel. Auf jedem befinden sich zehn Zellen. In jeder Zelle ein Jugendlicher. In einer Zelle sitzt Christian.

Christian hat seine Haftstrafe seit neun Monaten abgesessen. Trotzdem muss er im Gefängnis bleiben. Wann der 22-Jährige entlassen wird, weiß er nicht. "Ich kann vier Monate sitzen oder zehn Jahre oder mein ganzes Leben", sagt er. Denn Christian ist im Maßnahmenvollzug.

Zahlen ohne Bedeutung

Die sogenannte Maßnahme ist eine Haftform für "geistig abnorme Rechtsbrecher". Christian hat eine Tat begangen, die "auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht", wie es das Gesetz anachronistisch formuliert. Er gilt als gefährlich. Daher bleibt seine Haft auch nach Absitzen der Strafe aufrecht. Derzeit sitzen in Österreich 960 Häftlinge im Maßnahmenvollzug. Davon sind knapp 30 junge Erwachsene, also zwischen 18 und 21 Jahre alt, und rund ein Dutzend Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren. Die Maßnahme ist für Insassen extrem belastend.

Christian sitzt auf einem Holzsessel in seiner Zelle. Er trägt kurze Hosen und ein T-Shirt. Seine Haare sind kahl geschoren, die muskulösen Arme hat er verschränkt. Er wurde schon wegen einer ganzen Reihe von Delikten verurteilt. Schwere Körperverletzung, gefährliche Drohung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, versuchte Nötigung. Nach seiner letzten Haft lernte er ein Mädchen kennen, sie verliebten sich, begannen eine Beziehung. Doch sie war von Gewalt geprägt. "Ich habe meine eigenen Regeln aufgestellt", sagt er. Mehr will er dazu nicht sagen. Ein Gutachter diagnostizierte psychopathisches Verhalten. Christian wird zu 28 Monaten verurteilt. 13 Monate bedingt, 15 Monate unbedingt, also in Haft. Zahlen, die für Christian keine Bedeutung mehr haben. Sie sagen nichts darüber aus, wie lange er hierbleiben muss.

Als Christian das erste Mal ins Gefängnis kommt, ist er 16 Jahre alt. Heute ist er 22. 
© Luiza Puiu

Christian steht auf, geht zum Fenster, zündet sich eine Zigarette an. Als er das erste Mal ins Gefängnis kommt, ist er 16 Jahre alt. Heute ist er 22. Dazwischen liegen sechs Jahre, in denen er immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommt, auf Polizeirevieren landet, vor Richtern sitzt, eingesperrt wird. Christian scheitert an sich selbst - und den Drogen. Er versucht, immer wieder Fuß zu fassen, beginnt eine Lehre als Karosserietechniker, bricht sie ab. Er probiert andere Berufe. Keine Lehrstelle passt zu ihm. Sie bleiben ungenutzte Chancen, Lücken im Lebenslauf. Schuld waren jedes Mal die Drogen, die er nahm. Der Rausch vertrug sich nicht mit der Arbeit. Ständig kam er zu spät, war antriebslos, zu bekifft. "Ich habe es mir einfach richtig verbaut", sagt er. Den Anschluss im Arbeitsleben verpasst er. Das Leben seiner Familie auch.

Seine jüngere Schwester ist heute Zwölf. "Mit neun Jahren habe ich das letzte Mal etwas mit ihr unternommen", sagt Christian. Seine Familie fehlt ihm, obwohl sie ihn regelmäßig besuchen kommt. Dann fragen sie ihn, wann er entlassen wird. Christian weiß es nicht. Er blickt nachdenklich durch die Gitter. "Ich will es meiner Familie zeigen, dass ich es schaffe. Aber natürlich will ich es mir selbst beweisen. Ich will einfach normal leben."

Die Haft wirkt sich auf die Psyche der Jugendlichen aus. Manche kooperieren, andere ziehen sich zurück und werden depressiv.
© Luiza Puiu

Dabei wird Christian therapeutisch unterstützt. Maßnahmenhäftlinge wie er sind die Sorgenkinder von Neuberger-Essenther. "Wir arbeiten daran, ihre Gefährlichkeit zu reduzieren", sagt sie. Viele der Insassen werden medikamentös behandelt, sie absolvieren Antigewalttraining. Auf jeder der vier Abteilungen in Gerasdorf arbeitet jeweils ein Sozialarbeiter, Pädagoge und Psychologe. "Die Therapie tut mir gut", sagt Christian. "In mir steckte vieles, was einfach rausmusste." Früher hat er seine Probleme in sich hineingefressen. Er hat Drogen genommen, sich in den Alkohol geflüchtet. Irgendwann war es zu viel. Sein Ventil war die Gewalt. Heute lässt er seinen Frust in Gesprächen raus. Er seufzt. "Ich habe es mir selbst nicht leicht gemacht." Über seine Haft spricht er reflektiert. Die Strafe findet er gerecht, die Maßnahme nicht. Nicht zu wissen, wann er raus darf, zermürbt ihn.

Doch Christian hat Hoffnung. Endlich ist ein Lehrabschluss in greifbarer Nähe. In den vergangenen Jahren hat er sich in Gerasdorf zum Maurer ausbilden lassen. Sein drittes Lehrjahr ist angebrochen, heuer hat er Abschlussprüfung. "Ich hoffe, das ist mein Ticket in die Freiheit."

Zermürbende Ungewissheit

Das Ticket in die Freiheit löst ein Gutachter. Christian erwartet ihn sehnlichst. Er will ihm zeigen, dass er sich gebessert hat. Er will ihm von seiner Ausbildung erzählen, von den Therapiegesprächen, von seiner Einsicht und Läuterung. Wann er kommt, weiß Christian nicht. Einmal im Jahr kann die Haftanstalt einen Gutachter bestellen, sie muss aber nicht. Die Jugendlichen werden darüber im Unklaren gelassen.

Das Wort des Gutachters hat Gewicht. Auf Grundlage seines Berichts entscheidet das Gericht, ob die Jugendlichen weiter gefährlich sind oder zurück in die Gesellschaft geschickt werden können. Eine schwerwiegende Entscheidung. Der Gutachter kann nur eine Prognose abgeben. Sein Gutachten ist keine Garantie. Ein Restrisiko bleibt. Verübt ein ehemaliger Maßnahmenhäftling ein Verbrechen, muss sich der Gutachter verantworten. Kaum ein Experte will sich dieser Verantwortung stellen.

Wie sehr das System der Gerichtsgutachter für Jugendliche Straftäter krankt, zeigen die nackten Zahlen. In ganz Österreich gibt es fünf. In sechs Bundesländern hat sich überhaupt kein Gutachter auf Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert. Das hat einen pragmatischen Grund: Es lohnt sich nicht. Ein Gutachten ist dem Staat exakt 195 Euro und 40 Cent wert. Dafür sollen Psychiater Biografien durchleuchten, nach Tatmotiven suchen, mit Eltern, Lehrern, Betreuern, dem Jugendamt sprechen, Beziehungen unter die Lupe nehmen – und schlussendlich über Leben entscheiden.<10></10>

Gabriele Wörgötter stellt sich der Aufgabe trotz allem. Sie kennt die jugendliche Psyche wie sonst kaum jemand. Gerichte bestellen die Psychiaterin seit Jahrzehnten als Gutachterin für jugendliche Straftäter. Im Laufe ihres Berufslebens begegnete sie hunderten Jugendlichen, die im Heim groß wurden, von ihren Eltern missbraucht wurden, die Schule abbrachen, drogenabhängig waren. "Viele haben nie gelernt, was eine Beziehung ist. Sie haben Sozialisationsdefizite. Sie wissen nicht, wie man sich anpasst und Regeln befolgt", sagt Wörgötter. Die Ursache für eine kriminelle Handlung ist selten eine psychische Erkrankung. Sie wurzelt in einer Störung der Persönlichkeit.

Mangel an geeigneten Gutachtern

Zuletzt begutachtete Wörgötter einen Amokläufer in einer Schule in Korneuburg. Er schoss auf einen Mitschüler und verletzte ihn schwer. Der 18-Jährige wurde wegen Mordversuchs – nicht rechtskräftig – zu sechs Jahren Haft verurteilt. Als Maßnahmenhäftling ist er in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht. Wörgötter stellte eine "schwere kombinierte Persönlichkeitsstörung" fest. Der junge Mann leidet an einer "enormen emotionalen Verarmung und unter Einsamkeit", befand die Psychiaterin. Ob Haft ohne Aussicht auf Entlassung daran etwas ändern kann, erscheint auch für sie fraglich. "Zu oft findet die Therapie in Gefängnissen auch schlicht und einfach nicht statt", sagt Wörgötter. Es mangle an Ärzten, Therapeuten und Geld.

"Jugendliche haben im Maßnahmenvollzug nichts verloren", sagt Markus Drechsler. Der Obmann des Vereins SIM (Selbst- und Interessensvertretung im Maßnahmenvollzug) weiß, wovon er spricht. Er war selbst jahrelang im Maßnahmenvollzug. Weil diese Menschen keine Lobby hatten, gründete er den Verein. Anstatt sie einzusperren, wären Jugendliche besser in einer betreuten Wohnform untergebracht, sagt Drechsler. "Alles, was die Haft vermeidet, wäre gut." An diesen Einrichtungen mangle es aber chronisch. Österreichweit gibt es etwa nur rund 14 Nachbetreuungseinrichtungen. Also sperrt man sie weiter ein – auch in Gerasdorf.

<11></11>Die Verbrechen der Jugendlichen von Gerasdorf werden vom Boulevard verbraten. Sie füllen die Chronik-Seiten der Zeitungen und Online-Plattformen. Die sensationsgierige Leserschaft schätzt Berichte über Vergewaltigungen, Morde und Messerstechereien. Sie sind ein gutes Geschäft. Die Artikel werden tausendfach angeklickt, auf Facebook geteilt, kommentiert. Die Schlagzeilen malen das bedrohliche Bild einer verrohten, brutalen Jugend. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

Zahl der Verurteilungen geht stark zurück

Einen ersten Aufschluss gibt die Polizeiliche Kriminalstatistik. Sie zeigt das Gegenteil. Die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen bei Gewaltdelikten ist in den vergangenen zehn Jahren um ein Drittel zurückgegangen. Gab es vor 2008 noch 5424 jugendliche Tatverdächtige, so waren es 2017 noch 3654. Tatverdächtig heißt, dass die Polizei einen Anfangsverdacht für eine Straftat hat. Es liegt jedoch noch keine "Beschuldigung" vor. Der Tatverdacht ist der Anfang einer Kette von Ermittlungen, an deren Ende ein rechtskräftiges Gerichtsurteil stehen kann.

Auch die Zahl der tatsächlichen Verurteilungen fällt seit Jahrzehnten: 1970 wurden 7780 Jugendliche verurteilt, 1990 nur noch weniger als die Hälfte. Und 2017 wurden 2001 Jugendliche rechtskräftig verurteilt, davon fassten 1412 eine Freiheitsstrafe aus.

Weniger Tatverdächtige, weniger Urteile. Die Kriminalität sinkt also. Doch das ist nur ein Teil der Realität. Ein anderer ist die hohe Brutalität der Taten. "Die Delikte werden eher massiver", sagt die Psychiaterin Wörgötter. "Wenn einer am Boden liegt, wird er noch weiter attackiert." Messer würden immer häufiger zum Einsatz kommen. Ihre Beobachtung deckt sich mit den Daten aus den polizeilichen Erhebungen. Die Straftaten von jugendlichen Tatverdächtigen bis 17 Jahren mit Stichwaffen haben sich vervielfacht: Seit 2008 ist die Zahl von 99 auf 566 gestiegen. Die Hemmschwelle, zuzustechen, ist gesunken. "Die Frustrationstoleranz ist geringer geworden. Jugendliche fühlen sich aufgrund einer Beleidigung in die Enge getrieben und zücken das Messer", sagt Wörgötter. Konflikte werden nicht mehr mit Worten ausgetragen, sondern mit Gewalt.

Junge Männer sind grundsätzlich krimineller als Erwachsene. Zwischen 18 und 21 Jahren haben sie das größte Risiko, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. In diesem Alter ist die sogenannte "Kriminalitätsbelastungszahl" am höchsten. Sie sagt aus, wie viele ermittelte Tatverdächtige einer Altersgruppe auf 100.000 Einwohner entfallen.

Jugendliche sind mobiler, sie ecken gerne an, sie fordern das System heraus. "In der Regel passiert nichts, viele altern aus dem Gefahrenalter heraus", sagt der Soziologe Walter Hammerschick vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie. Wenn sie erwischt werden, wird es schwierig. Sie bekommen einen Stempel aufgedrückt: "Du bist kriminell".

Werden Jugendliche erwischt, rufen sie mitunter bei Rudolf Mayer an. Seine Kanzlei befindet sich in einer Altbauwohnung im neunten Wiener Gemeindebezirk. Die Wände sind mit Zeitungsausschnitten gespickt. Sie zeigen ihn und seine spektakulären Fälle. Er ist einer der prominentesten Strafverteidiger des Landes. Er vertrat die "Eislady" Estibaliz Carranza und Josef Fritzl. Das ist seine bekannte Seite. Weniger bekannt ist Mayers Engagement für Jugendliche. Seit mehr als 30 Jahren vertritt er sie vor Gericht.

Fragt man ihn nach den Gründen, warum 16-Jährige zu Räubern, Dieben und Einbrechern werden, doziert er über Sigmund Freud und die Neurowissenschaften. Er spricht über Spiegelneuronen, die für das Mitgefühl verantwortlich seien. "Wer die nicht aufgebaut hat, ist Game Over. Der spürt eben nicht, was ein anderer empfindet." Die Jugendlichen, mit denen er zu tun hat, lungern im Park herum. Sie haben keine Ausbildung gemacht, keinen Job gefunden. "Es sind die nicht gewollten, die gehassten, aber auch die verwöhnten, denen keine Grenzen gesetzt worden sind", sagt Mayer.

Taten werden brutaler

Das Phänomen krimineller Jugendliche beobachtet Mayer seit Jahrzehnten. Die Integration ausländischer Jugendlicher sieht er über weite Strecken als gescheitert. Er erzählt von der Macho-Kultur von jungen Afghanen, Tschetschenen und Türken. "Sie müssen zeigen: Ich bin ein Mann, der seinen Willen durchsetzt, wenn nötig auch mit Gewalt." Auch Mayer sagt, dass Jugendliche immer brutaler werden. "Früher ging es darum, wie fest man jemand beim Raufen in den Schwitzkasten genommen hat. Heute geht es darum, ob man die alte Oma, die am Boden liegt, zehn oder 15 Mal auf den Kopf getreten hat." Darum sei Haft bei manchen Jugendlichen das letzte Mittel. "Einen Räuber und Vergewaltiger kann ich nur verwahren, da bleibt mir nichts anderes über." Haft als Schutz der Gesellschaft vor Kriminellen funktioniert. Ob sie das Übel an der Wurzel packt und das Verhalten der Jugendlichen ändert, ist eine andere Frage. "Bei denen, bei denen das Mitgefühl schon gänzlich fehlt, erreichst du mit Haft gar nichts, außer, dass sie noch roher werden."

Ein 19-Jähriger, der ein junges Mädchen mit dem Messer erstochen hat. Eine Gruppe von 16 bis 18-Jährigen, die einen jungen Burschen brutal verprügelten und mit einem Korkenzieher auf ihn einstechen. Ein 18-Jähriger, der mit Schreckschusspistole einen schweren Raub versucht. Das sind die Chronik-Meldungen der vergangenen Wochen.

Was soll man mit diesen Jugendlichen machen? Sperrt man sie ein, verschärft man die Strafen oder bietet man Alternativen zur Haft? Auf diese schwierigen Fragen findet die türkis-blaue Regierung derzeit eine allzu einfache Antwort: härtere Strafen.

Bisher gelten für Jugendliche niedrigere Strafen als für Erwachsene. Ihr Strafrahmen ist um die Hälfte herabgesetzt. Begehen sie einen Raub, drohen ihnen maximal fünf - statt zehn - Jahre Haft. Auch für junge Erwachsene gelten mildere Strafrahmen. Sie dürfen maximal 15 Jahre eingesperrt werden. Damit soll nun Schluss sein. Die Regierung prüft, ob die Strafen für junge Erwachsene an jene der Erwachsenen angeglichen werden können. Genauere Angaben konnte das Justizministerium auf Anfrage der "Wiener Zeitung" dazu nicht machen. Das Jugendgerichtsgesetz befände sich noch in der Evaluierung.

Die Pläne der Regierung stoßen bei vielen Experten auf reflexartigen Widerstand. Sie orten reinen Populismus. Harte Strafen für Vergewaltiger, Messerstecher, Mörder kommen an. Der Wähler will, dass der Staat durchgreift. Er will beschützt werden. Er will sich in Sicherheit wiegen. Lange Strafen bringen nichts, halten Kritiker dagegen. Sie schrecken nicht ab. Sie garantieren kein deliktfreies Leben nach der Haft. Ganz im Gegenteil.

<12></12>Die Debatte ist zu einem regelrechten Glaubenskrieg ausgeartet. Die eine Fraktion will strafen, die andere erziehen. Letztere hatte in Österreich lange Zeit die Oberhand.

In den 1970er-Jahren herrschte Aufbruchstimmung. Ein liberaler Wind wehte durch den Strafvollzug. Man schrieb sich Humanität auf die Fahnen. Die Strafbarkeit von Homosexualität wurde aufgehoben, die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs geschaffen. Der sozialdemokratische Justizminister Christian Broda entwarf die Utopie der "gefängnislosen Gesellschaft". Der Jugendgerichtshof in der Rüdengasse im dritten Wiener Gemeindebezirk wurde zum internationalen Vorzeigemodell. Er vereinte Gericht, Gefängnis, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe und Jugendamt unter einem Dach. Hier wurde der liberale Strafvollzug gelebt – und funktionierte. Delegationen an Richtern, Juristen, Soziologen aus dem Ausland besichtigten ihn. Innovationen wie Diversion, Antigewalttraining, Bewährungshilfe wurden dort entwickelt. Heute sind sie längst Usus und aus dem Strafrecht nicht mehr wegzudenken.

"Lange Haftstrafen bringen nichts"

Die Kehrtwende kam mit der ersten schwarz-blauen Koalition um die Jahrtausendwende. 2003 schloss der freiheitliche Justizminister Dieter Böhmdorfer unter Kanzler Wolfgang Schüssel den Jugendgerichtshof. Er erntete Kritik und Unverständnis. Bis heute fordern ihn Jugendrichter zurück. In die türkis-blaue Regierung setzen sie wenig Hoffnung.

Beate Matschnig schüttelt den Kopf. Kaum jemand in Österreich hat so viel Erfahrung mit kriminellen Jugendlichen wie sie. Als Richterin machte sie Hunderten den Prozess. Sie urteilte 25 Jahre am Jugendgerichtshof, danach am Wiener Straf- und Landesgericht. Im Herbst ging sie in Pension. Die Pläne der türkis-blauen Regierung findet sie absurd. Wegsperren war für Matschnig immer das allerletzte Mittel. "Lange Haftstrafen bringen überhaupt nichts. Dazu gibt es unzählige Studien. Es macht den Häftling um nichts besser, es wird nur schwieriger, ihn wieder zu integrieren", sagt sie. "Man kann das tausend Mal sagen, die Politik will es nicht hören, sie handelt populistisch." Die Politik solle sich an das Fachwissen der Expertise orientieren, nicht nach den Lesern der Boulevardzeitungen. "Wenn ich mich nur aus den Klatschblättern informiere, bin ich auch für härtere Strafen", sagt sie.

Je länger Menschen eingesperrt sind, desto mehr verlernen sie, sagen Soziologen. Deshalb gibt es in Gerasdorf einen Supermarkt, der einmal die Woche geöffnet hat. Dort kaufen die Häftlinge Deo, Süßigkeiten, Zigaretten – fast wie im "echten" Leben. Einkaufswagen und Kassa gaukeln ihnen vermeintliche Freiheit vor. Doch das Gefängnis ist ein unnatürliches System. Ein Leben in Unfreiheit soll auf ein Leben in Freiheit vorbereiten. Eine paradoxe Logik. Die Haft macht etwas mit den Jugendlichen. Sie wirkt sich nicht nur physisch, sondern auch psychisch auf sie aus. Manche kooperieren, manche lehnen sich gegen das Zwangssystem auf, andere ziehen sich zurück, werden depressiv. Experten sprechen dann lapidar von Haftschäden. Längere Strafen verstärken sie.

Schweizer Modell hat Vorbildcharakter

"Vernünftiger wäre es, mehr Geld in Therapieeinrichtungen und bessere Haftbedingungen zu investieren", sagt Matschnig. "Die Unterbringung im Landesgericht ist für jugendliche Häftlinge eine Katastrophe." Früher ging sie einmal in der Woche in die Zellen der Jugendlichen. Sie kannte die Häftlinge, ihre Nöte, ihre Sorgen. Das ist heute anders. Die sogenannte Haftvisite wurde weggespart. Bei den Justizwachebeamten herrscht chronischer Personalmangel. "Je weniger Beamte, desto härter der Vollzug", sagt sie. "Der Gedanke des liberalen Strafvollzugs verschwindet. Dazu fehlt der politische Wille."

Österreichs Vorreiterrolle im Jugendstrafvollzug ist längst dahin. Heute gilt die Schweiz als Beispiel, wie es funktionieren kann. Das dortige Jugendstrafrecht hat internationalen Vorbildcharakter. Die Eidgenossen setzen auf Erziehung. Mehr als die Hälfte der verurteilten Jugendlichen bekommen gemeinnützige Arbeit aufgebrummt. Haft wird nur in Extremfällen verhängt. 2017 wanderten lediglich 209 der 12.000 verurteilten Jugendlichen ins Gefängnis. Dort werden sie ausnahmslos von Sozialpädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern betreut. Justizwachebeamte gibt es keine.

Das Schweizer Modell ist teuer, doch es macht sich bezahlt: Europaweit zählt die Schweiz zu den sanktionsärmsten Nationen. Der Anteil von Jugendlichen in den Gefängnissen liegt bei 0,2 Prozent. In Österreich sind es 1,7 Prozent aller Häftlinge.

Hinweis: Die Namen aller Häftlinge wurden geändert.