London/Brüssel. (reu/afp/apa) Gleich von drei Seiten steht Großbritanniens Premierministerin Theresa May innenpolitisch unter Druck: EU-Kritikern ihrer Tory-Fraktion geht der Entwurf für den Austrittsvertrag nicht weit genug, die nordirischen Unionisten von der DUP, die Mays Minderheitsregierung (noch) stützen, fordern ebenfalls Nachverhandlungen. Die oppositionelle Labour Party will keinen ungeordneten Brexit zulassen, hält das Abkommen aber für die schlechteste aller denkbaren Abmachungen.
Bisher drohte May meist mit einem chaotischen Brexit, sollte das Parlament dem Deal nicht zustimmen. Bei einer Fragestunde am Mittwoch im Londoner Unterhaus baute May eine neue Drohkulisse auf. Sollte das Parlament das Brexit-Abkommen ablehnen, könne der EU-Austritt komplett ausfallen. "Wenn Sie die Alternative zu dem Abkommen mit der EU anschauen, wird es entweder mehr Unsicherheit sein, mehr Spaltung oder das Risiko, dass gar kein Brexit stattfindet", sagte May.
Zwar wollte May nicht ausschließen, dass es zu einem sogenannten No-Deal-Brexit mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft kommen könnte, sie vermied es aber, das Szenario beim Namen zu nennen.
May-Vertraute schließt ungeordneten Brexit aus
Kurz vor Mays Auftritt in Westminister schloss Arbeitsministerin Amber Rudd in einem BBC-Radiointerview aus, dass das Unterhaus einen Brexit ohne Deal zulasse. Es gebe keine Mehrheit für einen ungeordneten Brexit, sagte die erst am Freitag vergangener Woche ins Kabinett berufene Ex-Innenministerin. Doch bleibt unklar, wie May für einen Deal die Zustimmung des Parlaments bekommen will, wenn ihr Teile der Tories und die DUP die Gefolgschaft verweigern.
In der Fragestunde ging May auch auf die Zukunft des Überseegebiets Gibraltar bei einem Austritt Großbritanniens aus der EU ein. "Wir sind absolut standhaft in unserer Unterstützung Gibraltars, seiner Menschen und seiner Wirtschaft", sagte May. London habe schon immer klargestellt, dass Gibraltar in die Austrittsverhandlungen eingeschlossen und beim EU-Austritt "voll involviert" sei. Der Austrittsdeal müsse auch für Gibraltar gelten.
Die Halbinsel im Süden Spaniens gehört seit 1713 zu Großbritannien, wird aber von Spanien regelmäßig zurückgefordert. Madrid pocht auf sein Recht, die Zukunft Gibraltars in bilateralen Gesprächen mit London zu verhandeln, und droht mit einem Nein zum Brexit-Abkommen. Obwohl der juristische Dienst des Europäischen Rates Spanien versicherte, dass der Entwurf bilaterale Verhandlungen nicht ausschließt, fordert Spaniens Regierung weitere Klarstellungen.
Austrittsdeal müsse auch
für Gibraltar gelten
May verwies auf "ein Protokoll, das Teil eines breiteren Pakets von Vereinbarungen zwischen dem Vereinigten Königreich, Spanien und der Regierung von Gibraltar" sein werde. Die Gibraltar-Frage war auch zentraler Punkt in den Beratungen zwischen May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwochabend. Das Treffen diente zur Vorbereitung des EU-Sondergipfels am Sonntag. May wollte dieses nutzen, um für weiter Zugeständnisse für Großbritannien zu nutzen. Die Unterredung blieb allerdings weitgehend erfolglos. Am Donnerstag trifft Bundeskanzler Sebastian Kurz, Österreich ist derzeit EU-Ratsvorsitzender, May in London.
Der Brexit-Gipfel am Sonntag soll laut EU-Diplomaten nur kurz dauern, er startet um 9.30 Uhr mit einer Sitzung der 27 Staats- und Regierungschefs, zu der um 11 Uhr May hinzustoßen soll. Bereits zu Mittag soll das Sondertreffen wieder beendet sein. Denn der Gipfel soll den Austrittsvertrag nur politisch gutheißen - das Treffen ist ein informelles. Ein rechtlich gültiger Beschluss soll erst beim regulären EU-Gipfel am 13. und 14. Dezember erfolgen.
"Superqualifizierte Mehrheit" statt Einstimmigkeit
Der Austrittsvertrag muss von den EU-Staaten nicht einstimmig genehmigt werden, sondern mit "superqualifizierter Mehrheit". Das heißt, dass mindestens 72 Prozent der EU-Staaten mit Ja stimmen müssen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Spanien hätte also zumindest beim Austrittsvertrag kein Vetorecht, aber natürlich will die EU auch mit einer Stimme gegenüber Großbritannien auftreten.