London/Wien. Es ist die schwerste Niederlage für eine britische Regierung in der jüngeren Geschichte des Landes und das erste Mal seit 1864, dass das Parlament ein Abkommen der Regierung zu Fall bringt: Am Dienstagabend stimmte das Unterhaus mit 432 Stimmen gegen den EU-Austrittsvertrag, den Premierministerin Theresa May mit der EU verhandelt hat. 118 davon kamen aus den Reihen der konservativen Tories. Nur 202 Abgeordnete waren dafür.
May muss sich nun am Mittwoch einer Vertrauensfrage stellen. Wenige Wochen vor dem Austritt aus der Europäischen Union steckt Großbritannien damit in der schwersten politischen Krise seit einem halben Jahrhundert.
Die politisch angeschlagene Premierministerin sagte nach dem Votum, es sei nun deutlich, dass das Parlament die Vereinbarung ablehne. "Aber die Abstimmung von heute sagt uns nichts darüber, was das Parlament unterstützt." Nun müsse deutlich gemacht werden, ob die Regierung immer noch das Vertrauen der Abgeordneten habe. Teile des britischen Kabinetts vertreten die Ansicht, dass es nun Änderungen am Abkommen geben wird müssen.
Jetzt sind viele Augen auf Oppositionschef Jeremy Corbyn gerichtet. Der Labour-Chef beantragte umgehend ein Misstrauensvotum gegen die Regierung. Im Fall von Neuwahlen könnte sich der 69-Jährige Chancen auf das Amt des Premierministers ausrechnen.
DUP stützt May
Derzeit sieht es aber so aus, dass Mays Gegner in den eigenen Reihen nicht gegen die Regierungschefin stimmen werden. Auch der Koalitionspartner der Tories, die nordirische DUP, will keinen Sturz der Regierungschefin. Diese ist trotz der verheerenden Niederlage im Unterhaus am Dienstag nicht zurückgetreten.
Vor der entscheidenden Abstimmung schmetterten die Abgeordneten einen Antrag ab, der eine einseitige Kündigung des Nordirland-Backstops erlauben sollte. Dieser Auffangmechanismus soll eine Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern, der Passus wird von den Tory-Brexiteers vehement abgelehnt. May sprach siech gegen ein zweites Referendum aus; das würde zu einer weiteren Spaltung des Landes führen. Auch Neuwahlen wären nicht der richtige Weg. Laut May würden sie weitere Monate der Unsicherheit bedeuten.
Der Landeswährung hat der Ausgang der Abstimmung hingegen Auftrieb gegeben. Das Pfund Sterling legte mehr als einen Cent auf 1,28 Dollar zu. Auch wenn das Ergebnis politische Turbulenzen und einen ungeregelten Brexit nach sich ziehen könnte, erwarteten einige Börsianer, dass die Abgeordneten angesichts des eindeutigen Ausgangs des Votums gezwungen sein könnten, Alternativen zu suchen.
"Keine Nachverhandlungen"
Auf dem Kontinent löste das Ergebnis des Votums prompt Reaktionen aus. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nahm es "mit Bedauern" zur Kenntnis. Gleichzeitig betonte er, dass der Ratifizierungsprozess für das Trennungsabkommen fortgesetzt werde. Dieses sei ein "fairer Kompromiss" und "der bestmögliche Deal". Juncker rief London dazu auf, seine Absichten für das weitere Vorgehen "so schnell wie möglich" klarzustellen. Denn: "Die Zeit ist beinahe abgelaufen."
Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk stellte fest, dass die Vorbereitungen für alle Austrittsszenarien - inklusive No-Deal-Variante - weiterlaufen. Allerdings wäre die wohl einzige positive Lösung für Großbritannien, in der Europäischen Union zu bleiben.
Dass sowohl Juncker als auch Tusk von einem möglichen chaotischen Brexit sprachen, deutet darauf hin, dass sich die EU nicht zu weit gehenden Zugeständnissen bewegen lässt. In einigen Mitgliedstaaten wurde dies gleich erneut deutlich gemacht. So teilte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz per Twitter mit: "Es wird jedenfalls keine Nachverhandlungen zum Austrittsabkommen geben." Sein luxemburgischer Amtskollege Xavier Bettel stellte die Vorbereitungen auf einen ungeordneten Brexit in den Vordergrund. Und der deutsche Innenminister Heiko Maas sagte noch vor der Abstimmung: "Das Abkommen steht so, wie es ist."
Nicht ausgeschlossen dürfte aber eine Verschiebung des Brexit sein. In Brüssel soll hinter den Kulissen auch dieses Szenario durchgespielt werden.