London. In der Woche vor dem Brexit-Referendum, im Juni 2016, erschien die britische Zeitschrift "Spectator" mit einem Schmetterling auf der Titelseite. Das Insekt entfaltete seine Flügel in den Farben des Union Jack, in Blau-Weiß-Rot. Es erhob sich aus einem würfelähnlichen Kokon, dessen auseinanderfallende Seitenwände das Blau der EU und deren Sterne zierten. "Raus", schwärmte das Blatt, "und rein in die Welt."

Die Botschaft des für den EU-Austritt werbenden "Spectator" war damals jedem klar. Die lästige Hülle der Europäischen Union sollte der Schmetterling abstreifen, um sich in der weiten Welt neuer Ungebundenheit zu erfreuen. Es war eine Vorstellung, die viele Briten ansprach - zusammen mit der genialen Losung "Take back control": Ihr sollt wieder über alles selbst bestimmen. Bekanntermaßen siegten die Brexiteers ja dann auch beim Referendum, wenn auch nur knapp, mit 52 zu 48 Prozent.

Zweieinhalb Jahre später aber zuckt das hübsche Sinnbild neuer Zuversicht nur noch matt mit den Flügeln. Statt in der erträumten Freiheit landete der beschwingte Traum in einer Welt harscher Realitäten, im taghellen Licht der Ernüchterung.

In der Tat droht, was Brexit-Befürworter Boris Johnson seinen Landsleuten seinerzeit in schillernden Farben ausmalte, in diesem Winter für die Briten zu einem regelrechten Albtraum zu werden - falls sich ihre politischen Repräsentanten weiter auf nichts einigen können. Nicht nur plant die Regierung für den Fall der Fälle, Nahrungsmittel zu horten, Medikamente in Chartermaschinen einzufliegen, spezielle Polizeieinheiten zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Englands Straßen abzustellen und zum Schutz von Tankstellen reguläre Truppen aufzubieten. Von allen angesehenen Ökonomen und Finanzexperten des Landes haben sich die Briten auch sagen lassen müssen, dass jede Form von Brexit sie kurz- wie langfristig ein Vermögen kosten würde.

Visionen von neuer Größe

Banken und Großkonzerne haben aufgehört, über mögliche Gefahren zu lamentieren. Sie haben längst neue, profitable Ufer jenseits der Britischen Inseln ausgespäht. Auch Abgeordnete, die bisher betreten schwiegen, zeigen sich jetzt alarmiert. Sie wissen ebenfalls, dass beim Referendum von 2016 niemand dafür gestimmt hat, ärmer zu werden - geschweige denn dafür, in einem nationalen Notstand zu erwachen. Diplomaten raufen sich die Haare, weil ihr Land schon jetzt international an Ansehen und Einfluss eingebüßt hat, statt, wie versprochen, wieder "das große Britannien" zu werden, das es einmal war.