London/Brüssel. "Das Chaos regiert", "Lassen wir die EU-Tyrannen nicht gewinnen" oder schlicht "Kernschmelze!" - die Schlagzeilen der britischen Boulevardblätter hatten es am Donnerstag wieder einmal in sich. Am Vorabend hatten sich die Abgeordneten in Westminster gegen einen harten Brexit ausgesprochen. Auf Twitter und Facebook wurde das mit einer Mischung aus Häme und Sarkasmus kommentiert. "Die gute Nachricht ist, dass ein No-Deal-Brexit vom Tisch ist", schrieb ein britischer Journalist. "Die schlechte Nachricht ist, dass es keinen Tisch gibt."
Tatsächlich handelt es sich bei der Entscheidung Westminsters lediglich um einen Wunsch, denn es reicht nicht, gegen etwas zu sein: Um einen No-Deal-Brexit zu verhindern, braucht es ein Austrittsabkommen mit der EU.
"Mein Deal oder kein Deal!" - mit dieser Drohung versucht die britische Premierministerin, ihren Brexit-Vertrag doch noch durchs Parlament zu bringen. Bei manchen Abgeordneten hat das funktioniert: Am Dienstag stimmten nicht mehr ganz so viele gegen Mays Deal. Waren es im Jänner noch 432 von 635 Parlamentariern gewesen, so waren bei der zweiten Abstimmung "nur" 391 dagegen. Von Mays eigenen Tories hatten 39 die Seiten gewechselt. Am 20. März, einen Tag vor Beginn des nächsten EU-Gipfels, will die Tory-Chefin das Unterhaus noch einmal befragen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass dann wohl auch die unionistische DUP dafür stimmen würde. Allerdings braucht es mehr als die Stimmen der zehn Protestanten aus Nordirland, um das Austrittsabkommen der Premierministerin zu retten. Beim letzten Mal hatten ihr 149 Stimmen auf die Mehrheit gefehlt, 75 ihrer eigenen Tories hatten dagegen gestimmt.
Die Verhandlungen mit der EU und die Abstimmungen im britischen Unterhaus wären viel einfacher verlaufen, wenn Theresa May auf Donald Trump gehört hätte. Das sagt zumindest der US-Präsident, der nun auch zu jenen gehört, die sich eine Lösung für den Brexit wünschen. Er strebe nun ein Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich an, schrieb Trump am Donnerstag auf Twitter. "Mein Kabinett freut sich darauf, ein großes Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich zu verhandeln. Das Potenzial ist unendlich!"
Schlingerkurs des Labour-Chefs
Während sich die Abgeordneten am Donnerstag auf die Abstimmung über eine mögliche Verschiebung des für den 29. März geplanten Brexit vorbereiteten, warb Ratspräsident Donald Tusk in der EU für einen längeren Aufschub. Falls London dies wolle, dann werde er vor dem EU-Gipfel kommende Woche an die Spitzenpolitiker appellieren. Das wird es wohl auch brauchen, denn für so gut wie alle anderen EU-Spitzenpolitiker ist eine Verschiebung des Brexit über Juni hinaus nicht denkbar. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hielt eine Verschiebung für einige Wochen für möglich - vor der Europawahl Ende Mai müsse das Ganze aber abgeschlossen sein.
In London sorgte indes der Schlingerkurs Jeremy Corbyns für Empörung und Verwirrung. Auf den Druck seiner Partei hin hatte sich der Labour-Chef Ende Februar nach langem Zögern dazu hinreißen lassen, ein zweites Referendum über den EU-Austritt zu fordern. Doch am Donnerstag verkündete er, eine entsprechende Abstimmung darüber im Unterhaus nicht unterstützen zu wollen. Die schottische SNP warf dem Labour-Chef daraufhin Feigheit vor. Aus den Reihen der Sozialdemokraten hieß es, man wolle derzeit keine zweite Volksbefragung riskieren, da dies als undemokratisch angesehen werde.