Brüssel/London. Nach der Einigung mit der EU auf eine Brexit-Verschiebung muss die britische Premierministerin Theresa May nun gegen den Widerstand ihres Parlaments kämpfen. Eine Mehrheit für das Abkommen zum EU-Austritt ist weiterhin nicht in Sicht. Britische Medien stuften ihre Chancen am Freitag als gering ein und spekulierten über einen möglichen Rücktritt Mays in den nächsten Wochen oder Monaten.
In der Nacht auf Freitag haben die EU-Staats- und Regierungschefs Großbritannien nach mehrstündigem Ringen eine Verschiebung des bevorstehenden EU-Ausstiegs gewährt - wenn auch eine kurze. Sollte das britische Parlament kommende Woche dem ausgehandelten Austrittsvertrag noch zustimmen, soll es eine Verschiebung des Brexit-Datums bis zum 22. Mai geben, hieß es in der Abschlusserklärung des EU-Gipfels in Brüssel. Sollte das Unterhaus dagegen nicht zustimmen, soll es eine Verlängerung nur bis zum 12. April geben. "Bis zu dem Datum sind alle Optionen möglich, der Sturz in den Abgrund wird verschoben", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk.
OPTION 1: Geordneter Brexit vor der Europawahl
Die EU gewährt eine Verschiebung des Brexit bis zum 22. Mai. Voraussetzung ist, dass das Unterhaus in der kommenden Woche dem Austrittsabkommen noch zustimmt. Eine Hürde für den Plan ist Unterhaus-Sprecher John Bercow. Er hatte am Montag eine erneute Abstimmung über den Austrittsvertrag abgelehnt, weil das Parlament nicht zweimal über die selbe Vorlage befinden könne. Ziel dieser Verlängerung wäre es, Großbritannien genug Zeit zu geben, die Vereinbarungen im Austrittsvertrag in nationales Recht umzusetzen. Das Vereinigte Königreich würde dann am 22. Mai in einem geordneten Verfahren aus der EU austreten. Großbritannien bliebe danach noch bis Ende 2020 Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion.
OPTION 2: Das Unterhaus lehnt den Austrittsvertrag ab
Sollte das Unterhaus den Austrittsvertrag erneut ablehnen, ist der Stichtag der 12. April. Vor diesem Termin müsste Großbritannien "Angaben zum weiteren Vorgehen" machen, heißt es in den Gipfelschlussfolgerungen. Konkret geht es um die Entscheidung, ob das Vereinigte Königreich an der Europawahl teilnimmt oder nicht. Daraus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten:
a) Ungeordneter Brexit ohne Europawahl
Großbritannien würde bei einer Entscheidung gegen Abhaltung einer Europawahl aus der EU am 12. April austreten. Es wäre dann schlagartig nicht mehr Mitglied des europäischen Binnenmarktes und der Zollunion, Beziehungen aus 46 Jahren EU-Mitgliedschaft würden schlagartig gekappt. Dies hätte weitreichende Folgen für den Reiseverkehr und die Wirtschaftsbeziehungen. Die EU bereitet deshalb seit Monaten Notfallpläne vor.
b) Teilnahme an Europawahl und weitere Verschiebung
Die Briten halten wie die anderen 27 EU-Staaten bis zum 26. Mai Europawahlen ab, was May bisher strikt ablehnt. Die EU würde bei einer Wahlteilnahme über eine weitere Verschiebung entscheiden. Wie lange diese sein würde, ist unklar. Die EU-Kommission hatte diese Woche eine Verschiebung bis "mindestens" Ende 2019 empfohlen, wenn der Termin nach der Europawahl liegt. Der Zeitraum könnte demnach verkürzt werden, "wenn vor seinem Auslaufen eine Lösung gefunden wird".
c) Zweites Referendum
Bei einem anhaltenden Streit über den Brexit-Kurs in Großbritannien könnte neben Neuwahlen für den Fall einer langen Verschiebung auch ein zweites Referendum über den EU-Austritt an Unterstützern gewinnen. Die oppositionelle Labour-Partei sieht eine erneute Volksabstimmung schon jetzt als möglichen Ausweg. Das Unterhaus hatte dies vergangene Woche zwar klar abgelehnt, die Labour-Abgeordneten beteiligten sich jedoch nicht. Für die Vorbereitung eines zweiten Referendums wären laut Experten fünf bis sechs Monate nötig.
d) Rücknahme des Austrittsantrags
Für London besteht bis zum Austrittsdatum darüber hinaus jederzeit die Möglichkeit, den Brexit-Antrag ohne Zustimmung der EU einseitig zurückzunehmen. Dies bestätigte der Europäische Gerichtshof im Dezember. May warnt aber vor "katastrophalen" Folgen für die britische Demokratie, wenn das Brexit-Referendum von 2016 missachtet würde. Eine im Februar gestartete Online-Petition in Großbritannien zur Brexit-Rücknahme erhielt bis Freitag aber bereits mehr 2,2 Millionen Unterstützer.
Allerdings müsse sich die britische Regierung bis dahin entschließen, ob das Land an der EU-Wahl, die vom 23. bis zum 26. Mai stattfindet, teilnimmt oder nicht. "Wenn bis dahin nicht entschieden wird, fällt die Option einer deutlichen Verlängerung weg", sagte Tusk. May sei über die Konsequenzen informiert und habe dem Plan zugestimmt.
Zwei Mal ist May schon mit ihrem Deal im Unterhaus gescheitert. Unklar ist noch, wann im Parlament zum dritten Mal über das Brexit-Abkommen abgestimmt wird. Nach Angaben eines Parlamentssprechers wird es zunächst am Montagabend eine Debatte über den Brexit-Kurs geben. Parlamentarier haben dann wieder die Möglichkeit, Änderungsanträge zur Beschlussvorlage einzubringen. Sie können so der Regierung eine Richtung vorgeben. Bindend wäre dieser Beschluss aber nicht.
Parlamentarier wenden sich von May ab
Die Verärgerung der Abgeordneten über die Premierministerin nimmt in London zu: May hatte in einer Rede am Mittwochabend ausdrücklich das Parlament für die Verzögerung des EU-Austritts verantwortlich gemacht. "Die Abgeordneten waren unfähig, sich auf einen Weg für die Umsetzung des Austritts des Vereinigten Königreichs zu einigen", hatte May in ihrer Erklärung gesagt. Britischen Medien zufolge haben sich seitdem weitere Parlamentarier von ihr abgewandt. In Brüssel schlug die Regierungschefin wieder versöhnlichere Töne an.
May muss die Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Konservativen Partei, Unentschlossene in der oppositionellen Labour-Partei und die nordirische DUP, auf deren Stimmen ihre Minderheitsregierung angewiesen ist, von ihrem Vorhaben überzeugen. (apa, reuters)