London. Mit ihrem jüngsten Vorstoß hat sich Theresa May keine Freunde gemacht. Der rechte Rand ihrer konservativen Tories tobt, seit May mit Labour-Chef Jeremy Corbyn nach einem Ausweg aus der Brexit-Sackgasse sucht. Von einem "erniedrigenden Weg" spricht die rechtskonservative Times, "ungeheuerlich und unakzeptabel" nennt der "Daily Telegraph" die Entscheidung. Und der "Independent" wittert gar einen "Brexit-Betrug". Mit ihrer Entscheidung hat sich May von den Nationalisten in ihrer Partei abgewandt. Ein No-Deal-Brexit soll jetzt doch nicht sein, die roten Linien sind dahin.

Wenige Tage vor dem Ende der Frist für den EU-Austritt ist das Chaos in London nicht weniger geworden, im Gegenteil. In der Nacht auf Donnerstag stimmte das britische Unterhaus mit nur einer Stimme Mehrheit für einen weiteren Brexit-Aufschub. Der Antrag der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper zielt darauf ab, einen No-Deal-Brexit am 12. April zu verhindern. Parallel dazu ist der Streit über ein zweites Referendum entbrannt - sowohl bei den Tories als auch in der Labour-Party. Als erstes führendes Regierungsmitglied sprach sich Finanzminister Philip Hammond dafür aus - und wurde sofort von seiner Partei zurechtgewiesen.

Labour ist schon lange für eine weitere Volksbefragung: Eine Mehrheit der Sozialdemokraten findet, dass das Volk beim Brexit das letzte Wort haben sollte - egal, welchen Brexit-Weg das Parlament wählt. Doch ihr Chef Jeremy Corbyn setzt sich nur halbherzig dafür ein. Lieber wären ihm Neuwahlen, Corbyn will regieren. Bei den Abstimmungen im Unterhaus über die Brexit-Alternativen hat der Vorschlag eines Referendums zwar die größte Zustimmung erhalten. Eine Mehrheit dafür ist aber nicht in Sicht.

Gegner der Idee halten es für undemokratisch, das Ergebnis der Volksbefragung vom Sommer 2016 anzuzweifeln. Während sich damals knapp 52 Prozent für den Brexit ausgesprochen haben, würden heute laut Umfragen 54 Prozent für den Verbleib in der EU stimmen. Weil sich nach wie vor keine überragende Mehrheit abzeichnet, befürchten Beobachter, dass ein zweites Referendum das Land noch tiefer spalten würde. So warnten auch Teile der Labour Party ihren Chef, dass ein solches nur der extremen Rechten helfen und die Chancen der Sozialdemokratien bei vorgezogenen Wahlen verringern würde.

Die Befürworter eines Referendums argumentieren damit, dass das Pro-Brexit Lager bei seiner Kampagne vor der Volksbefragung von 2016 getrickst hat. Die EU-Gegner lockten mit falschen Versprechen und führten die Wähler mit Lügen in die Irre. Zudem hat die Vote-Leave-Kampagne das Wahlrecht verletzt, weil sie das Limit für Spendengelder überschritten hat. Proeuropäer haben daher schon früh versucht, das Ergebnis des Referendums rechtlich anzuzweifeln. Als Argument für eine zweite Volksbefragung geben sie an, dass erst jetzt klar sei, was der Brexit wirklich bedeute - und die Breiten sich daher anders entscheiden würden.

Angst vor Verlust Nordirlands

Für May kommt ein zweites Referendum nicht in Frage, laut Corbyn hat sie den Vorschlag am Mittwoch erneut abgelehnt. Am Donnerstag gingen die Gespräche dennoch weiter.

Seit der Annäherung Mays an die Opposition fragen sich viele, wieso die Tory-Chefin die Option eines ungeordneten Brexit so plötzlich fallengelassen hat. Immerhin war der Satz "Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal" jahrelang ihr Mantra. Laut "Sky News" liegt Mays Kehrtwende in ihrer Angst vor einem Verlust Nordirlands: Weil es bei einem No-Deal-Brexit wieder eine Grenze zwischen Irland und der britischen Provinz geben müsste, fürchtet London ein Referendum über die Wiedervereinigung Irlands. Stimmten dann auch noch die Schotten für die Unabhängigkeit, bliebe vom Königreich nicht mehr viel übrig.