London. Vor dem Hintergrund des harten Ringens um den Brexit hat der britische Premierminister Boris Johnson vorgezogene Neuwahlen für den 15. Oktober vorgeschlagen. Johnson sagte am Mittwoch in einer hitzigen Parlamentsdebatte, wenn Labour-Chef Jeremy Corbyn ein Gesetz gegen die Brexit-Strategie seiner Regierung unterstütze, müsse die Bevölkerung "ihre Sichtweise" zum Ausdruck bringen können.
Weniger als 60 Tage vor dem geplanten Verlassen der EU habe Johnson "keinen Plan, keine Autorität und keine Mehrheit", Corbyn. Johnson warf dem Oppositionsführer im Gegenzug vor, eine Strategie des "Zauderns und Zögerns" zu verfolgen.
Für das Ansetzen vorgezogener Neuwahlen benötigt Johnson eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus. Gegen seinen Willen werden die Abgeordneten am Mittwochabend über einen Gesetzentwurf abstimmen, der einen No-Deal-Brexit, also einen EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen, verhindern soll. Sollte vor dem 31. Oktober kein Abkommen mit der EU gebilligt werden, so verpflichtet das Vorhaben den Regierungschef, in Brüssel noch einmal einen dreimonatigen Aufschub des Brexit zu beantragen.
Der Premierminister hatte mehrfach erklärt, die EU am 31. Oktober verlassen zu wollen - und dies notfalls auch ohne Abkommen. Die Gegner in der Opposition, aber auch in der eigenen konservativen Partei fürchten in diesem Fall verheerende wirtschaftliche Folgen für Großbritannien. Im Falle von Neuwahlen könnte die Regierungsbildung in London noch vor dem 31. Oktober vonstattengehen.
Auch Ex-Finanzminister ausgeschlossen
Zuvor hatten die britischen Konservativen 21 Abgeordnete des Londoner Unterhauses aus der Partei ausgeschlossen, weil sie am Dienstagabend gegen den erklärten Willen von Premier Boris Johnson mit der Opposition stimmten. Unter den Ausgeschlossenen sind Nicholas Soames, ein Enkel des legendären britischen Premierministers Winston Churchill, und die früheren Finanzminister Philip Hammond und Kenneth Clarke. Das Unterhaus hatte mit 328 gegen 301 Stimmen beschlossen, am Mittwoch über einen Gesetzentwurf abzustimmen, mit dem ein Brexit ohne Abkommen verhindert werden soll.
EU-Gipfel Mitte Oktober
Für den 17. und 18. Oktober ist ein EU-Gipfel angesetzt. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters will die EU-Kommission ihre Vorbereitungen für den Fall eines harten Brexits verstärken. Am Mittwoch will sie Finanzhilfen vorschlagen für Unternehmen, Arbeiter und Bauern in der Europäischen Union, falls Großbritannien die Staatengemeinschaft ohne Austrittsabkommen verlässt.
Johnsons Regierung kündigte zur Bewältigung der Brexit-Folgen zusätzliche Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden Pfund (2,2 Milliarden Euro) an. Die Gelder sollen etwa in den Grenzschutz und die Infrastruktur von Häfen fließen. Der Premier will am kommenden Montag nach Irland reisen und dort mit dem irischen Regierungschef Leo Varadkar über die sogenannte "Backstop"-Regel sprechen, mit der die EU eine harte Grenze zwischen dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland und Irland verhindern will.
Aufregung um Rees-Mogg
Für Aufregung in Westminister sorgte auch der erzkonservative Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg. Er streckte sich am Dienstag, bei einer der wichtigsten Debatten in der Geschichte des britischen Parlaments, im Unterhaus auf einer der mit grünem Leder bespannten Bänke aus. "Die Verkörperung von Arroganz, Anspruchsdenken, Respektlosigkeit und Geringschätzung für unser Parlament", schrieb die Labour-Abgeordnete Anna Turley auf Twitter. Mehrere Abgeordnete forderten Rees-Mogg mit lauten Zwischenrufen auf, sich aufrecht hinzusetzen. Doch der grinste nur, schüttelte immer wieder den Kopf oder rückte seine Brille zurecht.
As a working class bloke brought up on a council estate in #Hull I always feel enormous pride and gratitude when I go into the chamber of the House of Commons to represent east #Hull. Ive never felt a sense of entitlement. This is what that looks like!?
Karl Turner MP (@KarlTurnerMP) 3. September 2019
Einige nahmen die Situation mit Humor. "Ich erwarte fast, dass die Nanny mit einer Decke, einem Polster und einem Heißgetränk für den armen Mann in die Kammer marschiert!", schrieb die Labour-Abgeordnete Angela Rayner auf Twitter. (apa, afp, reuters)