Das halbe Königreich dürfte sich am Dienstagmorgen die Fingerkuppen wundgekaut haben. Mit einem Tag Verspätung wollten die Richter des Supreme Court ihr Urteil verkünden. Die vorsitzende Richterin, Baroness Brenda Hale, nahm sich Zeit - und erklärte noch einmal die Umstände: Mitte September, gerade einmal sechs Wochen vor dem geplanten Brexit, hatte Premier Boris Johnson das Parlament für fünf Wochen in die Zwangspause geschickt - ein höchst umstrittenes Manöver. Die Sitzungsperiode des Parlaments zu beenden ist zwar ein übliches Verfahren, allerdings war der Zeitpunkt so kurz vor dem EU-Austritt äußerst heikel. Außerdem sollte die Pause ungewöhnlich lange sein.
Die Opposition, aber auch viele Konservative, warfen Johnson vor, das Parlament kaltzustellen, damit es ihm beim Plan für einen Brexit ohne Abkommen nicht in die Quere kommt. Offiziell hatte der Premier behauptet, die Pause diene der Vorbereitung eines neuen Regierungsprogramms.
Ein Gericht in Schottland hatte die Pause für illegal erklärt, während das Höchste Gericht in London es für eine rein politische Frage hält, in die sich die Justiz nicht einmischen soll. Es war nun Aufgabe des Supreme Court, diese beiden Urteile abzuwiegen und zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen.
Sieg des Parlaments
Das Urteil war dann äußerst überraschend - und eine weitere herbe Niederlange für Johnson. Denn die elf Richter entschieden einstimmig: Die sogenannte Prorogation sei "rechtswidrig, unwirksam und ohne Auswirkung", so Hale am Ende ihrer langen Rede.
"Mit dem Urteil hat das Parlament eine weitere Schlacht gewonnen", sagt Jo Murkens. Der britische Verfassungsexperte hält es zudem für einen Sieg für den Gerichtshof: "Die einstimmige Entscheidung hat niemand vorhergesehen. Der Supreme Court hat sich verhalten wie ein Verfassungsgericht und die Regierung in die Schranken verwiesen." Das Urteil gründet darauf, dass es keinen einzigen Grund für die Suspendierung des Parlaments gab. Mit der Einstimmigkeit der Richter (eine einfache Mehrheit hätte gereicht) kann die Regierung nicht behaupten, dass es auch unter den Juristen alternative Interpretationen gibt.
Die Brexiteers jedenfalls toben. Die Entscheidung des Gerichts sei "abscheulich", polterte der konservative Abgeordnete Andrew Bridgen unmittelbar nach der Urteilsverkündung live in der BBC. Das "Zombie-Parlament" werde nun dem Willen des Volkes im Wege stehen und den Brexit verhindern.
Johnson selbst ließ sich indes nichts anmerken. Er akzeptiere das Urteil, sagte er am Rande der UN-Generalversammlung in New York. Zwar habe es ein Abkommen mit der EU erschwert, doch werde er sich "nicht daran hindern lassen, den Brexit am 31. Oktober durchzuziehen". Wie er das unter Berücksichtigung des Gesetzes gegen einen Austritt ohne Abkommen erreichen will, verriet Johnson freilich nicht.