Im Endspurt bei den Brexit-Verhandlungen vor dem EU-Gipfel ist die Ziellinie offenbar nicht in Sicht: Der europäische Verhandlungsführer Michel Barnier sah am Mittwoch laut EU-Kommission "noch eine Reihe bedeutender Probleme zu lösen". Ähnlich äußerte sich die Regierung in London. Ob der EU-Gipfel ab Donnerstag eine mögliche Einigung damit noch absegnen kann, ist laut Diplomaten ungewiss.
EU-Ratspräsident Donald Tusk versuchte, Optimismus zu verbreiten. "Theoretisch sollte in sieben bis acht Stunden alles klar sein", sagte er am Mittwochnachmittag. Zuvor vermeldete EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos fast nichts Konkretes. Als Hinweis auf die Erfolgsaussichten meinte er nur: "Seien Sie geduldig. Sie haben drei Jahre lang gewartet. Jetzt können Sie auch noch drei Stunden warten." Die Verhandlungen zogen sich jedenfalls länger als gedacht. Barnier wollte die EU-Staaten eigentlich um 14 Uhr unterrichten, verschob dies aber.
"Zu ernst und zu technisch"
Bis Mittwoch soll ein Vertragsentwurf stehen. Er soll dann beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag gebilligt werden, damit Großbritannien am 31. Oktober mit einem Abkommen aus der Europäischen Union austreten kann. Sollte es am Mittwoch in Brüssel keine Einigung geben, ist nach Angaben eines EU-Diplomaten eher ein Sondergipfel zum Brexit wahrscheinlich. Der EU-Gipfel selbst werde am Donnerstag nicht über den Brexit verhandeln. "Was nicht geht, ist, dass es dort zu Verhandlungen kommt. Dafür ist das Ganze zu ernst und zu technisch", sagte der EU-Diplomat. Es gebe aber Fortschritte.Ohne Einigung müsste Johnson nach einem britischen Gesetz ab Samstag eine Fristverlängerung bei der EU beantragen - was er keinesfalls will. Vorige Woche hatte Johnson Zugeständnisse in der umstrittenen Irland-Frage gemacht und am Dienstag offenbar nachgelegt.
Zollgrenze in der Irischen See?
Streitpunkt war nach wie vor die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland offen gehalten werden kann. Aus Sicht der EU ist das nötig, um neue Unruhen in dem früheren Bürgerkriegsgebiet zu vermeiden. Doch will die Gemeinschaft nicht, dass über die "Hintertür" der neuen EU-Außengrenze in Irland unkontrolliert und unverzollt Waren auf den Binnenmarkt strömen.
Zur Debatte steht nun eine spezielle Zollpartnerschaft, die Kontrollen an der Grenzlinie auf der irischen Insel überflüssig machen soll. Nach Angaben aus deutschen Regierungskreisen könnte womöglich Großbritannien Zollkontrollen für die EU übernehmen. Doch müsse die EU dies überprüfen und notfalls einschreiten oder klagen können. Diese Details seien sehr wichtig. Britischen Medienberichten zufolge könnte demnach die Zollgrenze zwischen der Europäischen Union und Großbritannien künftig in der Irischen See verlaufen.
Ein solcher Vorschlag war schon einmal in London auf heftigen Widerstand gestoßen. Auch dieses Mal löste die Idee teils starke Kritik aus. So bezeichnete der frühere Nordirland-Minister und konservative Politiker Owen Paterson eine solche Lösung in der "Sun" als "absurd".
Nordirische DUP weiter skeptisch
Im Falle einer Einigung mit der EU müsste Johnson erst noch die nötige Unterstützung im britischen Parlament finden, denn seine konservative Partei hat dort keine Mehrheit. Johnson verhandelte eineinhalb Stunden lang mit DUP-Chefin Arlene Foster. Regierungsvertreter empfingen Medienberichten zufolge auch einige EU-freundliche Tory-Politiker, die das zwischen Johnsons Vorgängerin Theresa May und Brüssel vereinbarte Abkommen gestützt hatten. Johnson hat keine Mehrheit im Parlament mehr und ist auf jede Stimme angewiesen.
Für Mittwoch ist in London eine Kabinettssitzung angesetzt. Sie war ursprünglich schon am Dienstag geplant, aber abgesagt worden. Am Samstag könnte es dann zum großen Showdown im Parlament kommen, bei dem Johnson seinen Brexit-Deal vorlegt. Ob das Unterhauses am Wochenende aber tatsächlich zusammenkomme, hänge ganz von den Ereignissen in Brüssel ab, betonte der erzkonservative Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg in London. Er ist Vorsitzender des Unterhauses und auch für den Parlamentskalender zuständig.
Schusterschitz: Verlängerung möglich
Der österreichische Brexit-Delegierten Gregor Schusterschitz ist hoffnungsvoll, dass es noch am Mittwoch zu einer Einigung zwischen der EU und Großbritannien kommt. Als Diplomat sei er "Berufsoptimist", sagte er am Mittwoch auf "Ö1". Sollte es keinen Deal geben, würden die EU-Staaten aber wohl einer Verlängerung zustimmen, meinte Schusterschitz.
"Ich glaube schon, dass es Boris Johnson ernst meint, dass er bis 31. Oktober 2019 die EU verlassen will, wenn er das machen will, dann muss er sich heute mit uns einigen", so der österreichische Diplomat. In dem nun diskutierten Vorschlag Johnsons, wonach nur Nordirland weiter einer Zollunion mit der EU angehören würde, sieht Schusterschitz einen qualitativen Unterschied zu vorher. Der Vorschlag sei "wesentlich weniger kompliziert", weil er sich nicht wie der Plan Theresa Mays auf das gesamte Vereinigte Königreich beziehe. Die Handelsströme, die über Nordirland laufen würden, seien viel kleiner als jene die über ganz Großbritannien laufen "und daher sind dort Dinge möglich, die bei der Gesamtbetrachtung von Großbritannien schwer vorstellbar sind", so Schusterschitz. (apa, dpa, reuters)