Schwere Zeiten bedürfen besonders durchdachter Maßnahmen. So ist es kein Wunder, dass ein bekanntes Buch in der Kinder-Erziehung den Titel "Die Kunst, einen Kaktus zu umarmen" trägt. Es richtet sich an die Eltern heftig pubertierender Kinder - die an der Schwelle zum Erwachsenwerden eine ganze Reihe von unreflektierten, schlechten mitunter auch schädlichen Entscheidungen treffen. Und warum? Weil sie können. Und es den Eltern ordentlich zeigen möchten. Pubertierendes Verhalten können auch Erwachsene zeigen. Etwa Nigel Farage bei der letzten Sitzung des EU-Parlaments unter britischer Beteiligung. Billige, Plastik-Fähnchen schwingend jubelte er darüber, dass er nun Liberalen-Chef Guy Verhofstadt nicht mehr sehen muss: "Its over!".
In der Tat, das ist es. Am Abend des Freitags endet die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union. Für viele anglophile Europäer, wie den Autor dieses Textes, ist das ein Schlag in die Magengrube. Teilzeit-Heimat, Sehnsuchtsort, Urlaubsdestination, Studienobjekt, Projektionsfläche für viele positive Emotionen. Das war Großbritannien über Jahrzehnte. Am Freitag endet eine langjährige Beziehung, die ohnehin schon lange einseitig war. Nach unzähligen Stunden des Ansehens britischer Parlamentsdebatten, die suggerierten, dass es noch Hoffnung gäbe, ist es aus. Die vor Ärger und Hass hochroten Köpfe der Tory-Hardliner wie Bill Cash oder Mark Francois haben gewonnen.
Obwohl es lange nicht danach ausgesehen hat. Schließlich hatte sich bei immer mehr Briten die Einsicht festgesetzt, dass man in dieser Sache vielleicht den falschen Leuten vertraut hat und dass sich viele der vollmundigen Versprechen, die vor dem Referendum 2016 gegeben wurden, wohl nicht halten lassen werden. Den zuletzt doch noch überraschenden Erfolg nützen "Leaver" jetzt aus, um es den Gegnern - gerne abfällig "Remoaner" genannt - noch einmal ordentlich reinzureiben. Brexit-Partys "mit ausschließlich britischer Musik" werden in den Pubs des Landes ausgerichtet. Den Uhrturm "Big Ben" als ultimatives Symbol des Triumphs über die verhassten Gegner schlagen zu lassen, war erstaunlich vielen "Leavern" gar wert, Geld zu spenden. Immerhin: Es blieb beim Versuch.
Die Leiter von oben wegkicken
Es ist müßig, darüber zu diskutieren, wie es soweit kommen konnte. Um den Zustand des Landes zu erheben, reicht es, die Facebook-Seiten der britischen Presse zu verfolgen. Der Level an blankem Hass, an Xenophobie, an Engstirnigkeit und reiner Boshaftigkeit zeigt sich jeden Tag aufs Neue. Alt gegen jung, arm gegen reich, das sind die bekannten Bruchlinien. Die älteren Profiteure der EU, die die Leiter ihr Leben lang nach oben geklettert sind, kicken sie den Jungen jetzt von oben weg. Dafür nehmen die Ärmeren den Reicheren das Konstrukt, das denen zu ihrem Wohlstand verholfen hat, mit Freude weg. Dem Mindest-Pensionisten aus Liverpool ist es eine Freude, dem jungen City-Banker in die Suppe zu spucken. Soll er doch nach Amsterdam oder Frankfurt pendeln, geschieht ihm recht. Auch dass BMW-Motoren nicht mehr in Oxford, sondern in Steyr gebaut werden, kann einem ja egal sein, wenn man nicht mehr auf einen Job angewiesen ist und seine Stimme maximal destruktiv einsetzen will, Und warum? Weil man es kann.