London/Brüssel. Großbritannien und die Europäische Union (EU) stehen vor einer historischen Zäsur. Nach einem erbittert geführten Wahlkampf wird am morgigen Freitag klar sein, ob das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleibt oder der Gemeinschaft nach 43 Jahren den Rücken kehren wird.

46,5 Millionen registrierte Wähler dürfen abstimmen. Die Wahllokale öffneten im ganzen Land um 8.00 Uhr MESZ. Die Auszählung der Stimmen in den 382 Wahlkreisen sollte unmittelbar nach Schließung der Wahllokale um 23.00 Uhr MESZ beginnen. Mit ersten Resultaten wird am Freitag in der Früh (ab 7.00 MESZ) gerechnet, ein Ergebnis dürfte erst am Vormittags feststehen. Der Ausgang des Votums ist völlig offen. Auch das Schicksal des britischen Premierministers David Cameron könnte vom Ergebnis der Volksabstimmung am Donnerstag abhängen.

Das britische Pfund ist allerdings mit einem deutlichen Kurs-Plus in den Tag gegangen. Die Währung wurde zur Börseneröffnung am Donnerstag in London mit 1,4746 US-Dollar notiert - am Mittwochabend waren es noch 1,4680 Dollar gewesen. Dies könnte darauf hindeuten, dass die internationalen Devisenmärkte mit einem Sieg des Pro-EU-Lagers rechnen.

Beide Lager zuversichtlich

Labour-Chef Jeremy Corbyn gab sich demonstrativ zuversichtlich. "Es ist ein guter Tag", sagte er bei der Stimmabgabe im Londoner Stadtteil Islington. Zum erwarteten knappen Wahlausgang meinte der Pro-EU-Kämpfer, man könne entweder den Finger in den Wind strecken oder die Buchmacher befragen. "Die Buchmacher liegen meistens richtig", meinte er mit Blick auf die Wetten, die deutlich auf einen Sieg des Pro-EU-Lagers setzten.

Auch Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen britischen Ukip-Partei und einer der Wortführer des Austrittslagers, zeigte sich siegessicher. Das Brexit-Lager habe eine "sehr starke Chance", sagte er am Donnerstag vor seinem Haus in der Grafschaft Kent der Nachrichtenagentur PA. Alles hänge von der Wahlbeteiligung ab.

Der Streit zwischen den Brexit-Befürwortern und dem Pro-EU-Lager fand am Tag vor dem britischen Referendum einen vermutlich letzten Höhepunkt. Als "durchgeknallt" bezeichnete Großbritanniens Premier David Cameron seinen für den EU-Austritt agierenden Justizminister und Parteikollegen Michael Grove. Zuvor hatte dieser pro-europäische Wirtschaftsexperten mit Nazis verglichen. Auch Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, sagte, dass die EU wie schon Napoleon oder Adolf Hitler einen europäischen Superstaat schaffen wolle.

Pro-EU-Lager mit hauchdünnem Vorsprung

In den letzten Umfragen lagen die Befürworter eines Verbleibs in der EU zwar vorne. Der Abstand sei jedoch immer noch zu eng, als dass der Ausgang der Volksabstimmung an diesem Donnerstag vorhergesagt werden könne, betonten Meinungsforscher. Nimmt man den Durchschnitt von acht Umfragen seit dem 15. Juni ergibt sich ein hauchdünner Vorsprung von 45:44 Prozent für das Pro-EU-Lager. Rund zehn Prozent der Wähler waren aber noch kurz vor der Entscheidung unentschlossen.

Unabhängig vom Ausgang des Referendums schließt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Nachverhandlungen über Zugeständnisse für Großbritannien aus. Sollten sich die Briten heute für den Brexit entscheiden, könnten die Außenminister der sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bereits am Samstag in Berlin zusammenkommen. Die EU-Außen- und Europaminister, darunter Österreichs Sebastian Kurz, kommen am Freitag, in Luxemburg zusammen, um eine Antwort auf den Ausgang des britischen Referendums zu suchen. Laut Meinungsforschern ist das Ergebnis völlig offen.