Wien/London. "Meine Freunde und Kollegen sehen das Ergebnis alle als einen Triumph der Xenophobie und des Nationalismus an", sagt der Salzburger Hubert Mayr, der seit fünf Jahren in London lebt und als Produktmanager im Computerspielbereich arbeitet, zum Votum der Briten für den EU-Austritt.
Seine Freunde und Kollegen in Großbritannien seien erst einmal schockiert und verwirrt, so der 30-Jährige. "Zusätzlich zu einem zerbröckelnden Europa sehen sie jetzt ein zwiegespaltenes Großbritannien. Das Gemeinsamkeitsgefühl ist weg."
Mayr kennt persönlich niemanden, der für den Austritt gestimmt hat. In seiner Nachbarschaft sei die Stimmung sehr gedrückt, die Mehrheit habe für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. "Ich kenne persönlich auch einige Briten, die vor hatten, in den nächsten Jahren noch anderswo in Europa zu arbeiten. Das wird sich jetzt höchstwahrscheinlich um einiges schwieriger gestalten", denkt Mayr.
Mayr hätte nicht gedacht, dass ein Brexit überhaupt im Bereich des Möglichen liegt. "Bin komplett perplex und ziemlich ahnungslos, was das nun für mich persönlich bedeuten wird." Er ist gerade auf Heimaturlaub in Österreich und hat von seinem britischen Konto Euro abgehoben: "Der Wechselkurs war mal die erste spürbare Konsequenz."
Für das Vereinigte Königreich sieht der gebürtige Salzburger nun eine "ziemlich finstere Zukunft", wie er zur APA meinte. "Nordirland und Schottland haben ja auch mit einer Mehrheit für den Verbleib gestimmt - also ist jetzt anzunehmen, dass es dort zu neuen Abstimmungen über einen Austritt aus dem UK kommen wird. Das Ergebnis wird voraussichtlich nicht das gleiche sein wie beim letzten Versuch."
Nach Meinung Mayrs war das Referendum an sich eine "Schnapsidee". "Direkte Demokratie ist ja schön und gut, aber bei so einem komplexen Thema eine komplett uninformierte Bevölkerung zu befragen, ist für mich absoluter Irrsinn." Im Wahlkampf seien Informationen Mangelware gewesen. Das Angstschüren der Brexit-Kampagne war offensichtlich um einiges einfacher und vor allem wirkungsvoller als das verzweifelte Betteln der 'Bremain'- Fraktion", konstatiert Mayr. Der Brexit sei möglicherweise auch ein erster Schritt weg von einem vereinten Europa und eine "willkommene Inspiration für alle Rechtspopulisten Europas".
Ähnlich sieht es IT-Spezialist Markus Brunner, der in London für ein US-Unternehmen arbeitet. "Die weitreichende und komplexe Thematik hätte mehr Objektivität verdient als sie vom Ex-Bürgermeister Boris Johnson und Nigel Farage verpasst bekommen hat. Stattdessen wurden klassisch populistische Instrumente wie Nationalstolz und Emotion verwendet, um die Wähler zu überzeugen."
Der 27 Jahre alte gebürtige Burgenländer ist 2012 nach Schottland übersiedelt und lebt jetzt in der britischen Hauptstadt. Was Populismus betrifft, zieht Brunner auch Parallelen zu Österreich. "Die Immigrationswelle aus dem Nahen Osten, aber vor allem auch das Problemkind NHS (das öffentliche Gesundheitssystem Großbritanniens, Anm.) haben die öffentliche Debatte dominiert, und vor allem das Wählersegment jenseits von Akademikern und Fachkräften angetrieben - ähnlich wie man das in Österreich bereits gesehen hat."
Wie in ganz Europa gehe auch in England die Abstiegsangst um. "In der wirtschaftsstarken Region London hat die Mehrheit für den Verbleib gestimmt. In den historisch labour-dominierten ländlichen Regionen hat es dagegen eine herbe Niederlage für die Remain-Kampagne gesetzt", so Brunner.
Die Londoner, so Brunner, hätten am Tag nach dem Referendum Trübsal geblasen. "Die Stimmung heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit glich fast einem Begräbnis, so etwas habe ich hier noch nicht erlebt." Obwohl momentan ein "Gefühl von Rückschritt" in der Luft sei und das Gemeinschaftsgefühl in England durch die Entscheidung sicherlich nicht gestärkt werde, plädiert Brunner dafür, nicht gleich alles überzubewerten und erst einmal abzuwarten, was verhandelt wird.
Er persönlich hofft, dass London ein starkes internationales Wirtschaftszentrum bleibt. "Ich bin im Burgenland aufgewachsen - einem Bundesland, von dem (von Oberwart aus) nicht einmal ein Zug nach Wien verkehrt. Perspektive ist das höchste Gut für die junge Generation, und die gibt es hier in London hoffentlich weiterhin."
"Ich bin sehr schockiert, fix und fertig." Noch immer kann es die gebürtige Steirerin Nicole Brown nicht glauben, dass eine Mehrheit der Briten für den EU-Austritt gestimmt hat. Sie hatte mit einem knappen Nein gerechnet. Am Freitagvormittag checkte sie die Homepage von BBC News mehrmals, um zu sehen, ob sich das Ergebnis nicht doch noch nach ihren Wünschen dreht: vergeblich.Die 39-Jährige lebt seit knapp 16 Jahren in Faversham in der südöstlichen Grafschaft Kent, arbeitet als Lektorin im Fach Bildungswissenschaften am University College London, ihr Ehemann ist Engländer, er ist Lehrer an einer Privatschule mit vielen internationalen Schülern. Brown hat gegen den Brexit gestimmt, und auch in ihrem privaten und beruflichen Umfeld sei die Ablehnung eines EU-Austritts groß gewesen, sagt sie im Gespräch. In ihrem Wahlkreis Swale war der Anteil der Brexit-Befürworter allerdings mit 62,46 Prozent noch höher als landesweit (51,9 Prozent).
Die aus der Umgebung von Leoben stammende Brown kritisiert den Fokus der Kampagnen auf das Thema Einwanderer als Sündenböcke für die Überlastung des britischen Schul- und Gesundheitssystems und das Ziel der politischen Akteure, mit der EU-Frage eigentlich innenpolitische Veränderungen herbeiführen zu wollen. So ist der konservative Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson aus Browns Sicht gar kein so glühender Brexit-Befürworter, sondern habe vor allem seinen innerparteilichen Rivalen David Cameron als Premier stürzen wollen.
Nigel Farage von der UK Independence Party hält sie für eine "Prater-Comicfigur", einen "Lugner von England". Sein Wahlversprechen, dass die Gelder, die Großbritannien bisher an EU-Beiträgen gezahlt hat, künftig für Verbesserungen im britischen Sozialsystem eingesetzt würden, ist für sie schlichtweg "Blödsinn", und Farage habe dieses Versprechen Freitagfrüh auch gleich wieder relativiert. "Die Leute am Boden werden nichts davon sehen." Die Mutter eines Kindes sieht im Gegenteil unnötige Kosten: So müssten wohl die Pässe aller Briten ausgetauscht werden, so dass dort nicht mehr "Citizen of the European Union" draufstehe.
Über die Konsequenzen des Brexit für sich selbst und ihre Familie hat sich Nicole Brown noch nicht wirklich Gedanken gemacht, nachdem sie nicht damit gerechnet hatte. Sie fühlt aber Unsicherheit auf sich zukommen. Sorgen macht ihr etwa, ob sie und ihr Sohn die britisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft werden behalten können. Als Uni-Angestellte befürchtet sie auch, dass nicht mehr so viele Studenten aus dem Ausland nach Großbritannien kommen könnten. Nun heiße es einmal "abwarten und Tee trinken".
"Ich dachte, ich höre nicht richtig", sagt eine Österreicherin, die seit Jahrzehnten in England lebt zum Ergebnis der EU-Austrittsvolksabstimmung im Vereinigten Königreich. "Ich habe seit vier Uhr in der Früh nicht mehr geschlafen, da habe ich von der negativen Entscheidung im Radio gehört", sagt die 63-jährige gebürtige Kärntnerin, die an der Grenze zu Wales lebt, am Freitag.
"Ich habe gehofft, es geht sich aus, dass wir drinbleiben, aber es ist leider anders gekommen", so die selbst als österreichische Staatsbürgerin nicht Wahlberechtigte, deren Söhne aber allesamt für den Verbleib der Briten in der Union gestimmt haben, wie sie betont. Als Hauptursachen für die Stimmenmehrheit für den Brexit macht sie die im Wahlkampf dominierende Migrationsfrage und auch die geplante Visafreiheit für Türken verantwortlich, auch wenn diese noch gar nicht umgesetzt ist.
Als Schuldige für negative Dinge in Großbritannien sei meist die EU ausgemacht worden, dabei liege vieles im internen Bereich, macht die Austro-Engländerin auf ein Problem aufmerksam, dass es in vielen anderen Unionsstaaten auch gibt. Aus ihrer Sicht wäre es besser für das Vereinigte Königreich gewesen, in der EU zu bleiben um mitreden und mitbestimmen zu können. Jedenfalls gebe es "jetzt sicher auch für die EU viel zu tun, damit sich nicht ein Land nach dem anderen loslöst".
"Persönlich, und da geht es mir genauso wie vielen Freunden aus der ganzen EU, mit denen ich heute schon gesprochen habe, fühlt man sich hintergangen", schildert Franz Schwarz seine Gefühlslage nach dem Pro-Brexit-Votum. Schwarz, der an der Uni Wien Jus studierte, ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Wilmerhale in London. "Viele Freunde sagen, sie fühlen sich als EU-Bürger zum ersten Mal nach oft vielen Jahren, fast 20 in meinem Fall, nicht mehr willkommen. Einige fragen sich auch, ob sie in einem Land, das sich für Abgrenzung und Isolation entschieden hat, überhaupt noch leben wollen."
Schwarz ist schon lange im Land. Er habe ein sicheres Aufenthaltsrecht und könne auch die englische Staatsbürgerschaft bekommen, sagt er. "Ob ich das will, ist natürlich eine andere Frage."
Was seinen Beruf angeht, ist Schwarz optimistischer. Er geht davon aus, dass die EU und die britische Regierung innerhalb der ohnehin zweijährigen Übergangsfrist ausreichende Freihandelsabkommen verhandeln werden, die auch Aufenthaltsrechte zumindest für hoch qualifizierte EU-Bürger beinhalten. "Welche wirtschaftlichen Auswirkungen dies alles langfristig haben wird, vermag freilich keiner mit Sicherheit zu sagen."