Wien/Brüssel. Die EU-Institutionen fordern die britische Regierung auf, das Referendum so rasch wie möglich umzusetzen. Jegliche Verzögerung würde die Unsicherheit verlängern, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.

EU-Parlamentsfraktionen fordern von Cameron sofortigen EU-Austritt
Mit Unverständnis haben die größten Fraktionen im EU-Parlament auf die Ankündigung des britischen Premierministers David Cameron reagiert, seinem Nachfolger den Startschuss für die EU-Austrittsverhandlungen zu überlassen.

Die britische Regierung solle den anderen Mitgliedsländern schon beim EU-Gipfel kommende Woche in Brüssel mitteilen, dass Großbritannien die Union verlasse, forderte der Chef der EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), am Freitag. Die EU benötige jetzt Stabilität.


Links
LIVE-BLOG Brexit - Die Entscheidung
wienerzeitung.at ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten.

Wie die Fraktion der Sozialisten und Sozialdemokraten im EU-Parlament forderte auch der Liberalen-Vorsitzende Guy Verhofstadt baldmöglichst Klarheit: "Ich finde es inakzeptabel", sagte Verhofstadt in Reaktion auf Camerons Ankündigung. Die Konsequenz daraus sei, dass die Unsicherheit an den Finanzmärkten anhalten werde und es in diesem Jahr womöglich gar keinen Beginn der Austrittsverhandlungen gebe. Man sollte eine "schnelle und freundliche Scheidung" ermöglichen.

Kritik kam auch von der EU-Abgeordnete Viviane Reding: "So David Cameron, Sie verlassen das Schiff und überlassen es anderen, den Austritt zu verhandeln - empörend und unverantwortlich", schrieb Reding am Freitag auf Twitter. Für Europa sei es nun Zeit voranzugehen. Reding war von 2010 bis 2014 Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und Justizkommissarin.

Für sofortige Beratungen plädierte auch die Co-Chefin der Grünen-Fraktion, Rebecca Harms. Dagegen sah der Vorsitzende der EKR-Fraktion, in der die britischen Konservativen den Ton angeben, keine großen Probleme. Es sei absolut richtig, dass die Verhandlungen Camerons Nachfolger überlassen würden, sagte der Tory Syed Kamall. Langfristig spiele es keine Rolle, wenn die Gespräche "ein paar Wochen später" aufgenommen würden.

Cameron hat angekündigt, bis zum Oktober im Amt zu bleiben. Sein Nachfolger solle die EU darüber informieren, dass das Vereinigte Königreich nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon aus der Staatengemeinschaft austritt. Nach der Übermittlung dieser Benachrichtigung muss der EU-Austritt den Verträgen zufolge in zwei Jahren geregelt sein.

Merkel: Ein Einschnitt für europäischen Einigungsprozess

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht mit der Entscheidung Großbritanniens zum Ausstieg aus der Europäischen Union weitreichende Folgen für den Staatenbund. "Es gibt nichts drumherum zu reden: Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa, er ist ein Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess", sagte Merkel am Freitag im Kanzleramt. Sie habe die Entscheidung der Mehrheit der Briten mit Bedauern zur Kenntnis genommen.

Allerdings dürften nun keine voreiligen Beschlüsse getroffen werden, die Europa weiter spalten würden, sagte die Kanzlerin. Es gehe vielmehr darum, "mit Ruhe und Besonnenheit zu analysieren". Wichtig sei, dass die EU-27 dann gemeinsame Beschlüsse treffe. Deutschland habe eine besondere Verantwortung und ein großes Interesse daran, dass die europäische Einigung gelinge. Sie habe daher für Montag EU-Ratspräsident Donald Tusk sowie den französischen Präsidenten Francois Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nach Berlin eingeladen. Am Dienstag werde sie im Rahmen einer Sondersitzung des Bundestags über die Haltung der Bundesregierung informieren.

Brexit hat relativ geringe Auswirkungen auf heimische Wirtschaft 

Das Votum der Briten für einen EU-Austritt sorgt in Österreich auf die Wirtschaft bezogen nicht für große Sorgenfalten. Dies obwohl Großbritannien der achtgrößte Abnehmer von heimischen Exporten ist. Im Vorjahr wurde mit den Briten ein Handelsüberschuss von 1,7 Mrd. Euro erzielt. Für Österreich seien aber keine großen wirtschaftlichen Folgen zu erwarten, so Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ).

Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) sagte im APA-Gespräch, dass der Ausstieg der Briten aus der EU (Brexit) "nicht von heute auf morgen" geschehe, sondern je nach Ablauf ein bis zwei Jahre vergehen werden. "Ich bin überzeugt, dass am Ende ein Handelsabkommen ähnlich jenem der EU mit der Schweiz stehen wird." Die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen nach dem Abschied aus der Union würden "sowohl im Sinne Großbritanniens als auch im Sinne der EU" geregelt werden.

Aus Sicht von Wirtschaftsminister und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) werde es sich das Vereinigte Königreich bei einem Exportanteil von rund 50 Prozent in Richtung EU und umgekehrt nicht leisten können, sich vollkommen abzuschotten. "Trotz der aktuellen Belastung des Wirtschafts- und Investitionsklimas sollten die Konsequenzen daher mittelfristig beherrschbar sein", so der ÖVP-Chef.

Jedenfalls sehen IHS und Wifo keinen Grund, ihre gestern veröffentlichten Wirtschaftsprognosen zu überarbeiten. Die direkten Effekte eines Ausscheidens Großbritanniens aus der EU auf die österreichische Wirtschaft werden "relativ gering" sein, sagte IHS-Konjunkturexperte Helmut Hofer zur APA.

Auch Wifo-Chef Karl Aiginger sieht nur kleine Auswirkungen auf Österreich. IV-Chefökonom Christian Helmenstein sieht ebenso nur minimale Effekte in Österreich. Sollte die britische Wirtschaft in die Rezession rutschen, würde man dies bei den Ausfuhren aus Österreich aber schon spüren.

Sehr wohl aber überarbeiten Bank Austria, Erste Group und Raiffeisen ihre Prognosen in Reaktion auf die britische Brexit-Entscheidung. "Wir werden für Österreich für 2017 zumindest um einen halben Prozentpunkt nach unten gehen - von 1,5 auf 1,0 Prozent, alleine aus der Unsicherheit heraus", sagte Bank-Austria-Chefanalyst Stefan Bruckbauer am Freitag zur APA. Bedeutende Auswirkungen seien in Österreich erst ab dem vierten Quartal 2016 und dann 2017 zu erwarten.

Die Auswirkungen für Österreich werden "eher verhalten" sein, sagte Erste-Chefanalyst Friedrich Mostböck auf Anfrage der APA. "Aller Voraussicht nach" wird die Erste ihre Prognose für das Wachstum in Österreich im Jahr 2016 nur von 1,5 auf 1,4 Prozent zurücknehmen, 2017 dürften es dann 1,5 statt bisher erwarteten 1,7 Prozent Plus sein.

Im heimischen Leitindex ATX hat es am Freitag aber massive Einbrüche gegeben. Alle ATX-Werte waren zu Mittag im Minus. Die negativen Spitzenreiter brachen um mehr als zehn Prozent ein: Wienerberger lag gegen 13 Uhr bei minus 13 Prozent, die Erste bei minus 11,6 Prozent und Zumtobel bei minus 11,3 Prozent.

Votum für den Brexit löst politisches Erdbeben in Europa aus 

Politisches Erdbeben in der Europäischen Union: In einem historischen Referendum haben die Briten für den Austritt aus der EU gestimmt und damit politische und wirtschaftliche Turbulenzen ausgelöst. 51,9 Prozent votierten für den Brexit, wie die Behörden am Freitag mitteilten. Premierminister David Cameron zog die Konsequenzen und kündigte seinen Rücktritt an.

Europäische Politiker aller Coleur nahmen das Ergebnis der Volksabstimmung zum Anlass, um erneut Reformen der EU zu fordern. Viele, darunter EU-Ratspräsident Donald Tusk, der den Willen zur Einheit der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten bekräftigte.

Insgesamt sprachen sich 17,4 Millionen Briten für den Brexit aus, wie die Behörden nach Auszählung sämtlicher 382 Wahlbezirke mitteilten. 16,1 Millionen Menschen und damit 48,1 Prozent stimmten dagegen für den Verbleib in dem Staatenbund. Großbritannien ist demnach damit das erste Land, das die EU verlässt. Insgesamt 46,5 Millionen Bürger hatten sich für das Referendum registriert - 72,2 Prozent von ihnen gaben ihre Stimme ab.

EU-Befürworter Cameron kündigte in einer emotionalen Rede seinen Rücktritt bis Oktober an. Ein neuer Regierungschef müsse den Austrittsprozess leiten, sagte er vor seinem Amtssitz in London. Er werde in den kommenden Monaten "das Schiff stabilisieren", doch wolle er bis Anfang Oktober die Regierungsführung abgeben. Dies bedeutet, dass die Austrittsverhandlungen mit der EU weitgehend ohne Cameron stattfinden.

Der scheidende Premierminister betonte weiters, es werde für die in Großbritannien lebenden EU-Ausländer keine unmittelbaren Konsequenzen geben. Sie könnten weiter als EU-Bürger in Großbritannien leben. Auch für die Reisetätigkeit und für Import und Export von Waren gebe es keine schnellen Änderungen.

Jubel herrschte bei den Brexit-Anhängern. Rechtspopulist Nigel Farage von der Unabhängigkeitspartei UKIP sprach von einem "Sieg für die einfachen Leute". Er forderte eine "Brexit-Regierung". "Wir haben eine scheiternde politische Union zurückgelassen", sagte Farage mit Blick auf die EU. "Die EU versagt, die EU stirbt", frohlockte er.

Auch dem Vereinigten Königreich selbst könnte ein Zerfall drohen. In Schottland und Nordirland bekommen Separatisten Aufwind, die für eine Abspaltung von Großbritannien sind und in der EU bleiben wollen. Bei dem Referendum hatten Schotten und Nordiren mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert.

Nach dem Brexit-Votum ist die Sorge vor einem Erstarken von Nationalisten und Rechtspopulisten in vielen EU-Hauptstädten groß. In den Niederlanden forderte der Rechtspopulist Geert Wilders sofort ein "Nexit"-Referendum für sein Land. Ähnlich äußerte sich die Chefin der rechtsextremen französischen Partei Front National (FN), Marine Le Pen, für ihr Land.

Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) sieht die Gefahr eines Domino-Effekts nicht. Zwar werde es natürlich politische Kräfte geben, die ein ähnliches Referendum auch hierzulande fordern werden, so der Kanzler, ein solches Szenario mache für ihn aber "keinen Sinn", sagte er vor Journalisten in Wien. Durch das Resultat des Brexit-Referendums in Großbritannien werde Europa geschwächt und verliere international an Stellung sowie an Bedeutung, kritisierte er. Nun gehe es darum, die negativen Auswirkungen so gering wie möglich zu halten und die EU zu reformieren, meinte Kern unter Verweis auf eine wirtschaftliche und sozial verträgliche Entwicklung.

Auch in Brüssel begann eine Debatte über die Zukunft der EU. Tusk betonte, er könne im Namen der verbleibenden EU-Mitglieder sagen, dass diese entschlossen seien, "unsere Einheit zu 27 zu erhalten". Das Austrittsvotum der Briten sei "ein historischer Moment, aber sicherlich keiner für hysterische Reaktionen". Tusk kündigte an, dass die Staats- und Regierungschefs am Rande des EU-Gipfels kommende Woche ohne Großbritannien beraten würden. Dabei gehe es auch "um eine breitere Überlegung über unsere Union". Für Dienstag hat das EU-Parlament eine Sondersitzung einberufen.

Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz äußerte sich beschwichtigend. Er fürchtet keine weiteren Austritte aus der EU. "Die Kettenreaktion wird es nicht geben", sagte Schulz im ZDF-"Morgenmagazin". Zur Begründung verwies er unter anderem auf die negativen Reaktionen von Wirtschaft und Börse auf den Brexit.

Das Pfund verlor gegenüber dem Dollar deutlich. Wie praktisch alle Börsen weltweit hat der ATX heute kurzfristig massiv - rund zehn Prozent - verloren. Der Deutsche Aktienindex (Dax) verlor in der Früh 9,94 Prozent, die Börse in London startete mit einem Minus von 7,5 Prozent. In Paris rutschten die Kurse um fast acht Prozent ab.

Schulz rechnete mit dem raschen Beginn der EU-Austrittsverhandlungen. Großbritannien muss nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages die EU über den Austritt offiziell informieren. Dann beginnt eine zweijährige Frist zur Entflechtung der Beziehungen. Auch der Chef der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, plädierte für zügige Austrittsverhandlungen mit der EU.

Cameron hatte das Referendum bereits 2013 vorgeschlagen - vor allem mit dem innenpolitischen Kalkül, EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen. Diese Rechnung ging nicht auf. Zahlreiche Warnungen von Politikern aus der ganzen Welt, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von Wirtschaftsverbänden verhallten ungehört.

Brexit-Wortführer Boris Johnson, ein parteiinterner Rivale Camerons, argumentiert stattdessen, ein Austritt würde Londons Abhängigkeit von Brüssel beenden und dem Land seine Souveränität zurückgeben. Er sprach von einem "Unabhängigkeitstag" für Großbritannien. Johnson gilt bei Buchmachern als Favorit für die Nachfolge von Regierungschef David Cameron.