London. Falls wir schon vergessen haben sollten, was an Großbritannien einmal so liebenswert schien: Das politische System ist in Selbstauflösung begriffen, das Pfund tief gefallen, die Bank of England in Sorge um die wirtschaftlichen Stürme am Horizont - und im Unterhaus bewerfen Tories und Labour einander mit Zitaten aus dem Liederschatz der Smiths.

"Als einer, der selbst in den politischen Friedhof eingehen wird", sagte David Cameron am Donnerstag in Richtung des von seiner eigenen Parlamentsfraktion verlassenen Labour-Chefs Jeremy Corbyn, "Darf ich vielleicht meinen Lieblingsmann falsch zitieren und sagen: ‚Treffen wir uns beim Friedhofstor‘?" Mit seinem Lieblingsmann meinte Cameron Smiths-Sänger und -Texter Morrissey (die Bewunderung ist übrigens keine gegenseitige, wie Morrissey 2010 klarstellte). Das Zitat "So I meet you at the cemetry gates" entstammt wiederum einem Song auf dem Smiths-Album "The Queen Is Dead". Wenn der Premier schon dieses Album auspacke, konterte die Labour-Abgeordnete Kerry McCarthy, solle er "sich doch lieber noch weiter deprimieren, indem er sich meinen Lieblingssong ‚I Know It’s Over‘ anhört." Was dagegen die Labour Party anginge, sei jene ein Licht, das niemals verlösche, meinte Kerry, und zitierte damit ihrerseits den Songtitel "There Is A Light That Never Goes Out".

Jenes Lied handle von einem Doppelselbstmord, parierte Cameron: "Sie haben es mit Rücktritten probiert", polterte er in Anspielung auf Labours Schattenkabinett, das Corbyn in den Tagen nach dem Referendum fast vollzählig seine Unterstützung entsagt hatte, "Offensichtlich müssen sie sich anderswo nach Inspirationen umsehen."

Tatsächlich spekuliert der Erzähler in Morrisseys Text ja eher mit der Möglichkeit eines tödlichen Unfalls - was die Stimmung im Großbritannien eigentlich treffender widerspiegelt als eine Selbstmordmetapher: Unvergesslich der Auftritt des Sky-News-Politik-Chefreporters Faisal Islam, der in einem Studiogespräch sichtlich aufgelöst vom Treffen mit einem nicht namentlich genannten, konservativen Brexit-Befürworter erzählte. Auf die Frage, was nun der Plan des Vote-Leave-Teams sei, habe der Politiker einfach in Richtung Premiersresidenz in der Downing Street gedeutet und gesagt: "Es gibt keinen Plan. Die da hätten einen Plan haben sollen."

Traurige Siegesreden

Erst langsam wird klar, was nach jener traurigsten aller Siegesreden von Michael Gove und Boris Johnson am vergangenen Freitag in der konzeptlosen Brexit-Fraktion vorging, die offensichtlich gar nicht gewinnen, sondern Cameron bloß beschädigen und sich dabei ein wählbar volkstümliches Gesicht verleihen hatte wollen. Schockiert von Johnson und Goves inhaltsleeren Beschwichtigungen prügelte der griesgrämige alte "Guardian"- und "Observer"-Schreiber Nick Cohen eine bittere Abrechnung in die Tasten: "Es gibt Lügner, und dann gibt es noch Boris Johnson und Michael Gove", so seine Überschrift.

Aber das Ziel seiner Entrüstung waren nicht bloß die zwei Hauptverantwortlichen jener möglicherweise erfolgreichsten Irreführung der Massen in der Geschichte der britischen Demokratie, sondern die gesamte Zunft, der die beiden angehören (Johnsons Karriere begann in den Achtzigerjahren bei der "Times", er schreibt heute noch eine Kolumne im "Daily Telegraph", Gove war jahrzehntelang Reporter, Kolumnist und Kommentator in Print, Funk und Fernsehen).

"Ich sah etwas jenseits der Heuchelei in diesen zwei eingefrorenen Visagen", so Cohen. "Die Angst von Journalisten, die man beim Schummeln ertappt hat." Vote Leave, schrieb Cohen weiter, "wusste nicht, wie man die Schwierigkeiten mit Schottland, Irland, dem Flüchtlingslager in Calais und tausend andere Probleme lösen könnte, und wollte das auch nicht wissen. Man reagierte auf alle, die das Chaos voraussahen, das uns nun verschlingt, wie ein skrupelloser Kommentator, der weiß, dass sein Lebensunterhalt davon abhängt, den Widerspruch der Experten zum Schweigen zu bringen. Warum sollte man dem Kommentator Sendezeit geben, warum ihm einen Penny zahlen, wenn Experten zeigen können, dass alles, was er sagt, bloß aufgeblasener Unsinn ist? Die schlechtesten Journalisten wissen, dass ihr Publikum Unterhaltung, nicht Expertise will."

Europhobe Stimmungsmacher

Er bezog sich dabei auf Goves Aussage Anfang Juni als Reaktion auf die Warnungen der Ökonomen: "Die Menschen in diesem Land haben genug von Experten." Doch selbst Nick Cohen konnte nicht ahnen, um wie viel treffender seine Worte noch eine Woche später klingen sollten. Da hatte Gove, der nun überraschend als Tory-Chef kandidierte, bereits seinen Gefährten Johnson eiskalt ausmanövriert - und zwar auf eine Weise, die die schockierend korrupte Rolle der britischen Medienlandschaft im politischen Leben Großbritanniens demonstriert. Am Donnerstag war eine scheinbar private E-Mail von Michael Goves Frau, der für ihre spitzzüngigen Kolumnen berüchtigten "Daily Mail"-Journalistin Sarah Vine, an ihren Mann von einem "irrtümlich" ko-addressierten, mysteriösen "member of the public" den Medien zugespielt worden. Vine forderte darin ihren Gatten auf, so stur wie möglich zu sein. Er solle sich von Johnson "spezifische Versicherungen" besorgen, "sonst kannst du deine Unterstützung nicht garantieren".