Belfast/Dublin. Ein Geist geht um auf der Insel, im Norden wie im Süden: Schließt sich bei einem "harten Brexit" der Grenzbalken zwischen Irland und Nordirland wieder, so die Sorge vieler Experten, schadet das nicht nur der Wirtschaft. Es könnte auch der alte Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten wieder aufflammen. Mehr als 30.000 Menschen überqueren täglich die "unsichtbare Grenze" zwischen Nordirland und der Republik. "Der Gedanke an Grenzkontrollen nährt die Angst vor Konflikten", sagt John ODowd, der für die irisch-nationalistische Sinn Féin im nordirischen Parlament sitzt. Seit 2006 teilen sich dort die Sinn Féin und die unionistische Democratic Unionist Part (DUP) die Macht - und verwalten den Friedensprozess.
Rund 3500 Tote forderten die "Troubles", der Nordirlandkonflikt, zwischen 1969 und 1998. Mit dem Karfreitagsabkommen war der Weg für die geteilte Macht in Nordirland geebnet. Wenige Jahre später gab die IRA die Waffen ab, doch Splittergruppen blieben bis heute. Attentate auf Polizisten und Soldaten der britischen Armee gab es in den vergangenen Jahren aber nur vereinzelt.

In der jüngeren Generation aus der Mittelschicht macht sich zwar langsam eine Art nordirischer Identität bemerkbar, doch handelt es sich nach wie vor um eine klassenbasierte, zutiefst gespaltene Gesellschaft. Das zeigte sich auch beim Brexit-Referendum: Während die Katholiken mehrheitlich gegen den EU-Austritt stimmten, war ein Großteil der Protestanten für den Brexit. Insgesamt sprachen sich rund 56 Prozent der Nordiren für den Verbleib aus.
700.000 Menschen
suchen um irischen Pass an
Der Bürgerkrieg ist seit fast 20 Jahren vorbei, doch von Frieden kann keine Rede sein. In der Marschsaison kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, auf den Straßen patrouillieren nach wie vor gepanzerte Polizeiautos. Die Polizeistationen in Belfast sind umgeben von meterhohen Betonmauern, aufgestockt mit Draht - damit es schwerfällt, Molotowcocktails hinüberzuwerfen.
Mauern gibt es auch in Wohngebieten: Sogenannte Peacelines trennen katholische Viertel von protestantischen. Allein in Belfast gibt es rund 50 solcher Grenzwälle - doppelt so viele wie noch in den 1990ern. Rund 90 Prozent der Menschen leben in konfessionell getrennten Wohngebieten. Auch die Bildungseinrichtungen sind getrennt: Etwa 90 Prozent der Kinder besuchen katholische oder protestantische Schulen.
Hinzu kommt eine regelrechte Symbolschlacht. Nordirland hat keine eigene Flagge oder Nationalhymne wie Schottland oder Wales, es ist auch hier gespalten: In den katholischen Vierteln dominieren die Farben der irischen Flagge, in den protestantischen weht der Union Jack. Wer sich als Brite sieht, hat in der Regel einen britischen Pass, die meisten Katholiken haben einen irischen - zumindest bis vor kurzem, denn seit dem Brexit-Referendum ist die Zahl jener, die um einen irischen Pass ansuchen, regelrecht explodiert: Rund 700.000 Ansuchen hat es 2016 insgesamt gegeben. In Nordirland waren es allein im Juli um 60 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2015. Selbst Protestanten, die sich für den Brexit aussprachen, schreckten nicht davor zurück, einen irischen Pass zu beantragen. So riet Ian Paisley Jr, Abgeordneter der unionistischen DUP und Sohn des gleichnamigen, streitbaren presbyterianischen Pfarrers und DUP-Gründers, seinen Landsleuten, "einen zweiten Pass" zu beantragen: "Es ist ein europäisches Dokument mit einer Harfe vorn drauf, wieso sollte man das nicht wollen?"
Der Rekord an neuen irischen Pässen ist eines von vielen Symptomen für die Angst der Nordiren vor dem Brexit. "Bisher konnte man seine Identität mischen", sagt Stephen Farry von der religionsübergreifenden Alliance Party Nordirlands. "Man konnte von allem ein bisschen sein: Ein bisschen britisch, ein bisschen irisch, nordirisch oder sogar europäisch." Kommt es zu einem harten Brexit, könnte das den Rückfall in alte Identitäten zur Folge haben, warnt Farry, zur alten Gegenüberstellung von "britisch, unionistisch, protestantisch versus irisch, katholisch, nationalistisch".
Darüber macht sich auch der Süden Gedanken. Die größte Sorge der Republik im Zusammenhang mit dem Brexit ist Nordirland. "Wir wollen, dass es ein erfolgreicher Teil des Vereinigten Königreichs bleibt", sagt der irische Ökonom und Historiker John FitzGerald. "Das Problem ist, dass sich London nicht darum schert."
Es ist viel geschehen seit dem Karfreitagsabkommen von 1998. Der Tourismus spült jährlich rund 720 Millionen Pfund (857 Millionen Euro) in die Staatskassen - ein Erfolg, den ein neuentflammter Konflikt gefährden würde. Die lokale Filmindustrie floriert, seit die HBO-Serie "Game of Thrones" in Nordirland gedreht wird. Doch ein Großteil des nordirischen Wachstums ist der EU zu verdanken. Sie hat fast 2,5 Milliarden Pfund (2,97 Milliarden Euro) investiert und bis 2020 weitere zwei Milliarden versprochen. Zudem ginge Nordirland bei einem Brexit auch die großzügige EU-Friedensförderung verloren. Noch abhängiger ist Nordirland von London. Dreißig Prozent des Einkommens werden von dort überwiesen. "Noch wichtiger aber ist die politische Situation", sagt FitzGerald. London müsse die Personenfreizügigkeit zwischen Irland und dem Norden erhalten: "Aber wenn London einen auf Trump macht und eine Mauer baut, dann können wir das nicht aufhalten - so desaströs das auch wäre."