
London. Zwei Jeremys saßen einander gegenüber, der eine darauf angesetzt, den anderen, wie es auf gut Britisch heißt, "zu grillen." Jeremy Paxman ist eine altgediente Bulldogge der britischen Interviewkunst, sein liebster Trick ist die Dauerwiederholung einer Frage, sein zweitliebster die Erniedrigung des Gegners durch simultanes Hochziehen der Augenbrauen, Rümpfen der Nase und Herabziehen der Mundwinkel: "Es gibt nichts in ihrem Manifest, das darauf hinweist, dass Sie die Monarchie loswerden wollen", motzte Paxman und wedelte mit dem Wahlprogramm der Labour Party in Richtung des anderen Jeremy, "Was ja auch so eine Sache ist, an die Sie glauben, oder?"
"Schauen Sie", antwortete Jeremy Corbyn mit dem Gestus eines erschöpften Oberkellners, bei dem jemand Nudeln zum Schnitzel bestellen will: "Da ist nichts dergleichen drin, weil wir es nicht tun werden."
"Aber Sie glauben daran, oder etwa nicht?", setzte Paxman nach, übertönt allerdings vom Applaus des Publikums. Liebend gerne hätte er hier Trick Nummer eins angewandt und musste stattdessen mühsam umformulieren in seinem beharrlichen Bohren nach der gefährlich republikanischen Seele des Labour-Chefs.
Spott wegen Kleidung

Doch selbst dem geduldigsten Oberkellner reichts irgendwann. Als Paxman über Corbyns Standpunkt im Falle des Todes der Königin zu spekulieren begann, nahm jener schließlich selbst Labours rotes Pamphlet mit der Überschrift "For the many, not the few" ("Für die vielen, nicht die wenigen") in die Hand und erhob den Zeigefinger: "Jeremy, ich bestreite diesen Wahlkampf im Sinne einer sehr wichtigen Sache, das ist das Ausmaß der Armut in unserer Gesellschaft, die Menge an Kindern, die keine ordentliche Unterstützung erhalten." (Paxman bohrte weiter.) "Jeremy, ich kämpfe bei dieser Wahl", und er spuckte Paxman die Worte entgegen, als hätte der sie noch nie gehört, geschweige denn in den Mund genommen, "um soziale Gerechtigkeit."
Der Schlagabtausch in der Fernsehdebatte am Montagabend war symptomatisch dafür, womit Corbyn seit seiner Kür zum Labour-Vorsitzenden vor zwei Jahren zu kämpfen hat, aber er lag keineswegs außerhalb des Rahmens des Üblichen. Im Umgang mit dem von neoliberalen und nationalistischen Standpunkten dominierten britischen Medien-Mainstream gilt jeder Labour-Chef grundsätzlich als verdächtig, wenn nicht gar gefährlich.
Als der brave Sozialdemokrat Neil Kinnock vor einem Vierteljahrhundert bei einer Wahlrede in freudiger Erwartung des ihm vorausgesagten Siegs ein herzhaftes "Well, alright! Well, alright!" in die Menge rief, konstruierten die britischen Fernsehnachrichten daraus durch endlose Wiederholung, das Zerrbild eines geistig instabilen Kandidaten. Die größte Tageszeitung "The Sun" machte sich über Kinnocks Glatzkopf lustig, in dem sie sein Antlitz über das Bild einer Glühbirne legte. Dazu die Überschrift: "Wenn Kinnock heute gewinnt, könnte die letzte Person, die Britannien verlässt, bitte das Licht abdrehen?" Auch Labours sehr gemäßigtem letzten Kandidaten Ed Miliband, der die Sparpläne der austeritätsbesessenen Tory-Regierung kaum in Frage stellte, wurde der Spitzname "Red Ed" umgehängt. Ganz zu schweigen von jener berüchtigten Fotoserie des Londoner "Evening Standard", die ihn 2014 beim Essen eines Specksandwichs zeigte: "Ein wichtiges Accessoire, wenn man die arbeitenden Klassen zur Frühstückszeit trifft", spöttelte die Zeitung über "Mr. Milibands Kampf mit der fettigen Leckerei." Der Antisemitismus hinter dem Vorwurf der Weltfremdheit eines abgehobenen Sonderlings, der Schwierigkeiten mit dem Genuss von Schweinefleisch hat, blieb gerade noch unterschwellig. Am Tag vor den Unterhauswahlen 2015 ging "The Sun" dann aufs Ganze, indem sie das Bild des Sandwich-essenden Miliband mit der Überschrift "Save Our Bacon!" ("Rettet unseren Speck!") versah.
David Cameron pflegte Milibands Nachfolger Corbyn wiederum wegen seiner schlampigen Kleidung zu verspotten: "Ich glaube, ich weiß, was meine Mutter sagen würde: Zieh einen ordentlichen Anzug an, richte deine Krawatte und sing die Nationalhymne." Erst gestern griff Theresa May in einer Rede diesen persönlichen Angriff wieder auf. Die Fernsehdebatte vom Vorabend habe gezeigt, dass Corbyns Betreuer ihn wohl in einen smarten, blauen Anzug stecken könnten: "Aber mit seiner Position zum Brexit wird er sich in den Verhandlungsräumen der Europäischen Union allein und nackt wiederfinden. Ich weiß, dieses Bild ist zu unerträglich, um es sich vorzustellen." Kurze Pause für das höhnische Gelächter des Publikums. "Aber eigentlich ist das sehr ernst."
In der Tat, das ist es, denn genau solche Untergriffe sind es, die den gängigen Eindruck von Corbyns "Unwählbarkeit" verfestigen. Tatsächlich blieb der (so wie ein großer Teil der britischen Presse) in einer guten Privatschule erzogene Tony Blair als einziger Labour-Chef der letzten paar Jahrzehnte von solchen Demütigungen verschont. Sein Nachfolger Gordon Brown dagegen litt nicht bloß unter antischottischem Sentiment. Er war auch die Zielscheibe einer ganz spezifischen Meuchelstory, die den Wendepunkt der britischen Politik vom Zentrismus der Ära Blair in Richtung des schließlich im Brexit kulminierten Rechtsrutsch markiert. Im Wahlkampf 2010 lief Brown in Rochdale einem unzufriedenen Labour-Mitglied über den Weg. Gillian Duffy, eine 65-jährige ehemalige Gemeindeangestellte machte ihrem aufgestauten Unmut Luft: "Man kann nichts über die Einwanderer sagen, weil dann sagen die, man ist ein... Aber all diese Osteuropäer, die da hereinkommen, wo kommen die her?"