London. An klaren Tagen kann man von der Südostküste der Grafschaft Kent aus das französische Festland sehen. Man möchte meinen, das fördere Verbundenheit, doch knappe zwei Drittel der hiesigen Wahlberechtigten zogen im Juni 2016 der Aussicht über den Kanal eine diffuse Traumvision der Selbstbestimmung vor. "Dover and out", titelte damals "The Sun", in fetten Lettern projiziert auf die weißen Kreidefelsen über Britanniens wichtigster Hafeneinfahrt, ganz im Einklang mit dem vielbeschworenen Volkswillen. Seit damals haben drüben auf dem Kontinent viele darauf gewartet, dass sich in Großbritannien die Stimmung dreht. Muss sie doch, sobald einmal die desaströsen Auswirkungen des Brexit offensichtlich werden. Doch ein zweites Referendum scheint nach wie vor politisch unmöglich, und so oder so lägen "Remain" und "Leave" auch jetzt noch unverändert Kopf an Kopf.

Ja mehr noch, nach einer von der Sonntagszeitung "The Observer" Ende Oktober beauftragten Umfrage zu den möglichen Varianten des Brexit ist neben einer reuigen Rückkehr in den Schoß der EU (23 Prozent) oder einer Übergangsfrist für einen sanften Austritt (25 Prozent) die nukleare Option "No Deal" mit 37 Prozent die mit Abstand populärste. In Dover und Umgebung liegt - neben der irisch-nordirischen Grenze - die künftige Front eines solchen radikalen Szenarios, bei dem Großbritannien ohne jedes Abkommen die Zollunion, den Binnenmarkt und sämtliche europäische Regulative verlässt.

Warteschlangen in Dover

Erst am 14. November warnte das Public Accounts Committee des Unterhauses, die Zollbehörde Ihrer Majestät müsse sich dringend der Einrichtung eines dafür nötigen, neuen Zolldeklarationssystems widmen. Stattdessen gäbe es zwischen Zoll und Finanzministerium bisher bloß eine "Konversation" über die möglichen Kosten einer Erneuerung des bestehenden Systems. Das sei "zutiefst besorgniserregend" angesichts der prognostizierten Verfünffachung der Arbeit des Zolls selbst im Falle eines geordneten harten Brexit. "Gewaltige Warteschlangen in Dover" würden dafür sorgen, "dass Lebensmittel in Lastwägen an der Grenze verrotten", heißt es im Bericht des Komitees.

Den Bewohnern von East Kent braucht man das nicht zu erklären. 2015 brachte ein französischer Lkw-Fahrerstreik den Güterverkehr über den Kanal zum Stillstand und verursachte damit einen über Wochen anhaltenden Rückstau an Lastwägen, der den halben Weg bis nach London zurückreichte. Zur Abhilfe plante die Regierung damals die Errichtung eines gigantischen Parkplatzes in den grünen Feldern zwischen der Autobahn und einem lauschigen Dorf namens Stanford. Wie zu erwarten, bildete sich dagegen bald eine lautstarke Bürgerinitiative. Just am Tag nach dem besorgten Bericht des Public Accounts Committee über die mangelnden Vorbereitungen der Zollbehörde gab das Verkehrsministerium nun den Bewohnern von Stanford nach. Man werde sich einen anderen Standort für den Parkplatz suchen und ausgerechnet im Jahr 2019 einen Antrag auf Planungserlaubnis einreichen. So berichtete das die BBC, ohne dabei auch nur einmal den Faktor Brexit zu erwähnen, der den Dauerstau auf der M20 zum Normalfall machen könnte.