"Ein politisches Versagen historischen Ausmaßes" nannte der Harvard-Philosoph Michael Sandel im Mai 2018 die "Willkommenskultur" Angela Merkels und ihre von den Briten mit Bestürzung wahrgenommenen Aussagen, dass "man Grenzen nicht schließen kann" und dass "es nicht in unserer Macht liegt, wie viele nach Deutschland kommen".

Diese freimütige Preisgabe der ordnenden Staatsmacht habe die Briten mit ihrer jahrhundertelang bewährten staatlichen Tradition zutiefst erschreckt, schreibt Jochen Buchsteiner. Der langjährige London-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen" bekundet in seinem fulminanten Essay "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie" deutliche Sympathien für die Eigenwilligkeit der Engländer, auch in ihrer EU-Skepsis. Die Briten hätten gemäß ihrer jahrhundertealten demokratischen Souveränität, die bis auf die Magna Charta von 1215 zurückgeht, stets ihren eigenen Weg abseits vom Kontinent beschritten.

Britischer Eigensinn

Spätestens seit dem Maastrich-Vertrag 1992 entfremdeten sie sich gründlich von den utopischen Zielen der EU, einen politischen Einheitsstaat mit zentralistischen Strukturen zu schaffen. Die Vertrauenskrise der EU, die mittlerweile den ganzen Kontinent erfasst hat, hätten die Briten mit ihrem bewährten Gespür für politische Pragmatik vorausgeahnt. Ihre Entscheidung sollte die Kontinentaleuropäer wachrütteln, meint Buchsteiner: "Der britische Eigensinn hätte dann Europa ein weiteres Mal vorangebracht."

Nimmt man daraufhin das Buch "Echte Engländer" von Tessa Szyszkowitz zur Hand, ist man verblüfft: Zumindest in den ersten Kapiteln finden sich in erstaunlichem Gleichklang die exakt gleichen Beispiele, Vergleiche und historischen Analysen wieder wie bei Buchsteiner. Nur zieht die Autorin in ihren folgenden Ausführungen ganz andere Schlüsse daraus. Das Anti-EU-Votum nennt sie "einen Paradefall für populistische Falschinformation mit unvorhergesehenen schwerwiegenden Folgen". Die Briten seien immer Insulaner geblieben, mit mäßigem Interesse an den Vorgängen auf dem europäischen Kontinent. Schon 1988 hatte Margaret Thatcher in Brügge in ihrer unnachahmlichen Art vor "der Führung eines europäischen Superstaats, der uns von Brüssel aus beherrscht", gewarnt.

Das Referendum vom Juni 2016, bei dem vor allem die Engländer auf dem Land für den Brexit gestimmt haben, offenbarte eine tiefe Spaltung im Land selbst. Die Unzufriedenheit reicht weit zurück, bis zur Finanzkrise von 2008 und zur Empörung der kleinen Leute, dass die Banken auf ihre Kosten gerettet wurden. Auch hier enthüllte sich die Ohnmacht der supranationalen Politik, indem sich die Finanzmärkte längst den Regulierungen der staatlichen Behörden entzogen hatten.

Und die Politiker? Die drehen ihre rhetorischen Pirouetten und spielen, wie der Provokateur Boris Johnson, ein außergewöhnlich selbstsüchtiges Spiel. "Die Menschen in diesem Land haben genug von Experten", sagte etwa Umweltminister Michael Gove unlängst in mokanter Ignoranz und verlässt sich sichtlich lieber auf Emotionen.

EU als Gefahr für Demokratie

Tessa Szyszkowitz hatte sich als EU-Bürgerin in Großbritannien gegen den Brexit engagiert. Streitbar urteilt sie: "Alles, was den Briten heilig ist, wird durch den EU-Austritt infrage gestellt. Demokratie, Parlament, Toleranz, selbst die sprichwörtliche Gelassenheit. Die alten Sicherheiten gelten nicht mehr. Das EU-Votum zeigte 2016, dass die Briten keine klaren Vorstellungen mehr haben, wer sie eigentlich sind."

Jochen Buchsteiner hingegen scheint überzeugt zu sein: Nur ein rechtzeitiger Widerruf von Merkels "Willkommenskultur" hätte den Brexit verhindern können. Indes, es rumort. Trotzdem meinen viele, an der Anerkennung des Votums von 2016 sei kaum mehr zu rütteln: weil die britischen Wähler, trotz aller Warnungen vor den Folgen, ihre Einstellung zum EU-Austritt nicht grundlegend geändert haben.