Bewundernd oder beleidigend gemeint, Winfried Kretschmann wird immer wieder attestiert, er ähnle Angela Merkel. Das weist der Grüne strikt von sich, kandidierte er doch bereits vor mehr als 40 Jahren für seine Partei - und kokettiert doch laufend mit den Konservativen. Für den jetzigen Landtagswahlkampf borgte sich Baden-Württembergs Ministerpräsident sogar einen der berühmtesten Sätze der Kanzlerin aus: "Sie kennen mich", sagte sie 2013 im TV-Duell mit ihrem sozialdemokratischen Herausforderer Peer Steinbrück. Merkel, damals acht Jahre im Amt, verwies so auf ihre langjährige Regierungserfahrung.

Winfried Kretschmann ist mittlerweile zehn Jahre Regierungschef im Südwesten der Bundesrepublik. "Sie kennen mich", prangt nun auf den Plakaten des Ministerpräsidenten. Und wie Merkel 2013 steuert Kretschmann auf einen furiosen Wahlsieg zu: Die Grünen werden aller Voraussicht nach nicht nur ihr Ergebnis von 30 Prozent deutlich übertrumpfen, auch der Abstand zur zweitplatzierten CDU wird wohl noch größer. Nirgends sonst in Deutschland stellen die Grünen einen Ministerpräsidenten und genießen auch nur annähernd starken Rückhalt in der Bevölkerung.

Fundis gegen Realos – das gibt es bei den traditionell bürgerlich-liberalen Grünen in Baden-Württemberg nicht.

Die Kombination aus Person und Programmatik macht es möglich. Kretschmann genießt überragende Popularität: Ob Kompetenz, Vertrauenswürdigkeit, Tatkraft, Bürgernähe oder Sympathie, überall liegt er an erster Stelle - sogar unter den CDU-Wählern. Auf seiner Website erzählt Kretschmann von seiner linksradikalen Jugendzeit und fragt sich öffentlich, wie er nur so abgleiten konnte. Neben den glattgebürsteten Biografien wirkt das erfrischend, auch wenn hier ein 72-Jähriger berichtet. Sei es die Pflege von Dialekt und Brauchtum, die Verwendung des gerade in linken Kreisen problematisierten Wortes Heimat oder Bezugnahme auf die Bewahrung der Schöpfung, wenn es um Umweltschutz geht: Kretschmann benutzt eine Rhetorik, die weit über die typisch-grünen Milieus der Städte hinausragt.

Auf dem Land Fuß gefasst, nicht nur in den Städten

"Die Grünen haben längst auf dem Land Fuß gefasst. Sie sind im Vorfeld von Politik vertreten, sei es in der Freiwilligen Feuerwehr oder in Gesangsvereinen", sagt Frank Brettschneider. Der Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim in Stuttgart erinnert daran, dass die Grünen bereits vor fünf Jahren in 47 der 70 Wahlkreise stärkste Partei wurden.

Während sich andere grüne Landesgruppen oder die Bundespartei in Machtkämpfen zwischen Realos und Fundis aufrieben, hat die bürgerlich-liberale und unternehmerfreundliche Stoßrichtung in Baden-Württemberg Tradition. Dass die Grünen nicht nur "ökologisch und sozial", sondern auch "ökonomisch" denken, steht in riesigen Lettern an erster Stelle ihrer Webseite - wie bereits im Wahlkampf vor fünf Jahren. So trifft die Partei auch die Grundstimmung Baden-Württembergs, wo vor den Grünen die CDU 58 Jahre ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellte und die Sozialdemokratie niemals die Füße auf den politischen Boden bekommen hat.

Diese Verankerung nutzen die Grünen und horchen genau hin, was die Bürger wollen. Sie nennen es "Politik des Gehörtwerdens". "Damit unterscheidet sich Kretschmann deutlich von der ,Basta-Politik‘ seines CDU-Vorgängers", sagt Wahlforscher Brettschneider. "Kretschmann macht aber auch klar, gehört werden bedeutet nicht erhört werden. Die Bürger sind Berater, aber nicht Entscheider."

32,5 Prozentpunkte Vorsprung sind ausradiert

Dass die Grünen so stark geworden sind, verdanken sie auch der Christdemokratie. Vor 15 Jahren erreichte die CDU bei der Landtagswahl noch 44 Prozent - um 32,5 Prozentpunkte mehr als die Grünen. 2011 ging es bergab auf 39 Prozent, 2016 folgte der Absturz auf 27 Prozent und zuletzt sagten Umfragen nicht mehr als 25 Prozent voraus.

Es könnte aber noch schlimmer kommen, seit einigen Tagen fegt ein Sturm über die Konservativen. Nicht genug, dass zwei Bundestagsabgeordnete in Masken-Geschäfte zu Corona-Beginn verstrickt sind. Einer von ihnen, Nikolas Löbel, stammt auch noch aus Baden-Württemberg. Er räumte zwischenzeitlich ein, dass seine Firmen Provisionen über eine Viertelmillion Euro erhalten haben. Löbel trat aus der Fraktion aus. Als der Druck zu groß wurde, legte Löbel auch Parteimitgliedschaft und Mandat nieder.

Noch dazu laboriert Baden-Württembergs CDU seit Jahren an einem Richtungsstreit. Modernisierer und Traditionalisten kämpfen um die Deutungshoheit. "Teile der CDU glauben noch immer, ihre Wahlniederlagen sind Zufälle der Geschichte", sagt Brettschneider mit Blick auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima und die Flüchtlingskrise.

Für Oppositionspolitik in der Regierung abgestraft

Dabei war die CDU zwischenzeitlich wieder auf gutem Wege, der kleine Koalitionspartner lag bis vergangenen Herbst in Umfragen gleichauf mit den Grünen. "Der kooperative Führungsstil nutzte beiden Parteien. Doch als Kultusministerin Susanne Eisenmann zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl gekürt wurde, begann sie, Oppositionspolitik in der Regierung zu betreiben. Und wie schlecht das bei den Wählern ankommt, sehe man im Bund bei der SPD", so das Urteil von Frank Brettschneider im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Erst recht, wenn das Gegenüber ein Landesvater ist, der mit seiner kauzigen Art im manchmal eigenbrötlerischen Land der Tüftler dermaßen gut ankommt.

Die Pandemie verschaffte Kretschmann eine zusätzliche Bühne - wie allen Ministerpräsidenten, die sich regelmäßig mit Kanzlerin Merkel treffen und die Maßnahmen abstimmen. Das Coronavirus ließ so gut wie keinen Platz für andere Themen im Wahlkampf. Kretschmann setzte ähnlich wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder frühzeitig auf eine vorsichtige Linie. Wirtschaftlich steht das Land vergleichsweise gut da: Der Einbruch im Maschinen- und Anlagenbau ist - auch dank der Kurzarbeitsregelung - abgefedert, die Arbeitslosenquote betrug im Februar nur 4,4 Prozent. In Österreich waren es 10,7 Prozent.

Knapp eine Viertelmillion Jobs in der Autoindustrie

Kleine Schritte der Öffnung schweben Kretschmann vor, getreu seinem Regierungsstil. Parteikollegen - insbesondere, wenn sie in Berlin sitzen - verdrehen die Augen, wenn dem Ministerpräsidenten eine Abwrackprämie für Pkw mit Verbrennungsmotor vorschwebt oder er mahnt, Autobauer dürften bei der Reduzierung der CO2-Grenzwerte nicht überfordert werden. Denn von rund einer Million Arbeitsplätzen in der Autoindustrie deutschlandweit entfällt knapp ein Viertel auf Baden-Württemberg, Porsche und Daimler haben hier ihre Konzernsitze. "Einigen Grünen geht Kretschmann nicht weit genug bei Klimaschutz und Mobilitätswende, die SPD kritisiert fehlende leistbare Wohnungen und der FDP vermisst überhaupt eine große Vision für das Land", sagt Frank Brettschneider.

Rein rechnerisch könnte Kretschmann wohl mit den beiden Parteien nach der Wahl eine Koalition bilden - wie sie bereits im benachbarten Rheinland-Pfalz existiert, das ebenfalls am Sonntag wählt. Dort steht mit Malu Dreyer eine SPD-Politikerin an der Regierungsspitze. Wahlforscher Brettschneider rechnet jedoch damit, dass die grün-schwarze Regierung fortgesetzt wird: "Kretschmann wird in dieser schwierigen Zeit für Kontinuität plädieren. Eine völlig neue Regierungsmannschaft bräuchte hingegen Monate an Einarbeitungszeit." Kleine Schritte statt großer Umwälzungen eben.