Angriffslust ist gewöhnlich nicht die Sache von Olaf Scholz. Deutschlands Finanzminister pflegt sein Image der hanseatischen Gelassen- und Sprödheit. Umso stärker ist der Kontrast zu den Tönen dieser Tage. Scholz richtete seinem Regierungspartner, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) aus, er habe den künftigen Mehrverbrauch bei Energieträgern "komplett verschlafen". Gesundheitsminister Jens Spahn (ebenfalls CDU) bekam zu hören, seine Pläne für die Erhöhung von Löhnen in der Altenpflege seien "unverfroren und unehrlich".

Spahn hat sich in den vergangenen Monaten zum bevorzugten Ziel von Scholz’ Kritik entwickelt. Im Jänner überzog er seinen Kollegen mit einen 24-Punkte-Fragenkatalog, um die Debatte über die schleppend angelaufene Corona-Impfkampagne zu befeuern.

Historische Wahlniederlage 2017 wäre nun ein Erfolg

Was auch Scholz versucht, in den Umfragen steckt die SPD fest. Der ARD-Deutschlandtrend weist ihr derzeit 14 Prozent aus - keine fünf Monate vor der Bundestagswahl. Das historisch schlechteste Abschneiden 2017, als die einst stolze Sozialdemokratie auf 20,5 Prozent absackte, wirkt heute wie ein zufriedenstellendes Resultat. Mehr als Zweckoptimismus haben die SPD-Granden nicht zu bieten, so muss der Parteitag am Sonntag als Startschuss für eine Trendwende herhalten. Pandemie-bedingt treffen einander die 600 Delegierten nur digital. Sie sollen Scholz als Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl bestätigen.

Im sozialdemokratischen Selbstverständnis lautet die korrekte Formulierung "Kanzlerkandidat". Doch davon ist die SPD weit entfernt. Stattdessen fragen sich alle, ob die Grünen tatsächlich CDU und CSU als stärkste Kraft ablösen. Mit 26 Prozent liegt die Öko-Partei derzeit drei Prozentpunkte vor den Konservativen. Die öffentlich ignorierte SPD muss trachten, nicht Platz drei an AfD (12 Prozent) oder FDP (11 Prozent) zu verlieren.

Das alte Elend holt die Sozialdemokratie ein: Oppositionspolitik von der Regierungsbank aus goutieren die Wähler nicht. Scholz kann zwar für sich verbuchen, dass innerparteilich Ruhe eingekehrt ist. Mit den beiden Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans klappt die Abstimmung. Das war nicht unbedingt zu erwarten, nachdem das Duo Ende 2019 überraschend gegen Scholz siegte, der ebenfalls SPD-Chef werden wollte. Die ständigen Debatten, ob die Partei die ungeliebte schwarz-rote Bundesregierung verlassen soll, sind zwar verstummt. Aber für diese Selbstverständlichkeit, um erfolgreich zu sein, gibt es keine Bonuspunkte von den Wählern.

Nun versucht es die SPD mit dem Motto "Aus Respekt vor Deiner Zukunft". Für Scholz bedeutet das unter anderem, den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 auf 12 Euro pro Stunde zu erhöhen. Die umstrittene Grundsicherung Hartz IV soll ebenso fallen wie die Aufteilung in gesetzliche Krankenkasse und private Krankenversicherung zugunsten eines einheitlichen Systems, der Bürgerversicherung. In der Klimapolitik klingt die SPD sehr grün: "Wenn es um Klimaschutz geht, sind wir die Arbeitsbiene", lautet ein Slogan in den Sozialen Medien. Gemäß dem Wahlprogramm sollen 15 Millionen Elektroautos bis 2030 auf Deutschlands Straßen rollen, und bis 2045 soll die Bundesrepublik CO2-neutral sein.

Allen schönen Zukunftsaussichten zum Trotz sieht sich Scholz in der Gegenwart mit unangenehmen Fragen konfrontiert. Der Skandal um den Milliarden-Euro-Betrug beim Zahlungsdienstleister Wirecard ging nicht spurlos an ihm vorüber, im April musste Scholz vor einem U-Ausschuss im Bundestag Rede und Antwort stehen. Als "absurdes Märchen" bezeichnete er dabei, die dem Minister unterstellte Finanzaufsicht BaFin hätte Wirecard geschützt. Der Chef der Behörde musste abtreten, die BaFin wird umgekrempelt und bekommt mehr als 150 neue Prüfer, um nach Scholzens Wunsch "mehr Biss" zu erhalten.

Wechselstimmung schlägt Regierungserfahrung

Führungsstärke will der Finanzminister damit demonstrieren - eine Eigenschaft, die ihm auch die Bürger attestieren. In dieser Kategorie liegt Scholz vor den Kanzlerkandidaten von Union und Grünen, Armin Laschet und Annalena Baerbock.

Ausgerechnet der Sozialdemokrat Scholz verteidigte die schwarze Null seines konservativen Amtsvorgängers Wolfgang Schäuble und eckte damit bei seinen Genossen an - bis die Corona-Pandemie auch die Finanzpolitik auf den Kopf stellte. Nun ist Scholz der Mann, der eine Neuverschuldung von 275 Milliarden Euro 2020 und weiteren 240 Milliarden Euro heuer verantwortet.

Sympathie und Glaubwürdigkeit sind nicht Scholz’ große Stärke, Baerbock schneidet in der ARD-Umfrage ebenso besser ab wie bei der Frage, wen die Deutschen am liebsten im Kanzleramt sehen würden. Die Bürger lässt bisher unbeeindruckt, dass die 40-Jährige - Baerbock ist um 22 Jahre jünger als Scholz - ohne Regierungserfahrung auf Länder- oder Bundesebene künftig die politischen Geschicke des wichtigsten EU-Landes lenken könnte. Gegen die Wechselstimmung kommt Scholz, der zuvor als Arbeits- und Sozialminister diente und lange Jahre Bürgermeister Hamburgs war, kaum an.