Wer vom Münchner Hauptbahnhof in die Innenstadt spaziert, muss vorbei am Stachus. So mitleidslos und verroht der Name des Platzes klingt, so ist er auch. Vier dicht befahrene Autospuren führen in jede Richtung. Der Stachus gehört zu den verkehrsreichsten Plätzen Europas, der Begriff Verkehrshölle wäre auch richtig.

Absperrungen verhindern die Überquerung für Fußgänger, die Hierarchie am Stachus ist klar festgelegt. Das Autos nimmt den Platz an der Sonne ein, die Fußgänger müssen unter die Erde. Rolltreppen führen nach unten, in ein unter dem Platz liegendes Einkaufszentrum, den Stachus-Passagen. In neongelber Beleuchtung unterquert man den Platz, der eine Autobahn ist.

Der Stachus ist aber kein ungewöhnlicher Platz in Deutschland. Der Vorrang für den Autoverkehr ist in diesem Land nur konsequent. Schließlich befindet sich jeder siebente Job in der Auto- und Zulieferindustrie. Eine hohe Abhängigkeit von einer Branche, die sich jahrzehntelang bezahlt machte. Denn die Autoindustrie machte das Land zu einer stolzen, wohlhabenden Exportnation. Wird das auch so bleiben?

Die Hände auf dem Lenkrad, der Daumen tippt im Takt zur Musik aus dem Radio, aus der Klimaanlage bläst eine leichte Brise, der Sitz ist bequem eingestellt. So fuhr Deutschland dahin, bis es plötzlich aus dem Wohlgefühl gerissen wurde.

Illegale Manipulationen verschiedener deutscher Autohersteller wurden bekannt. Gesetzlich vorgegebene Grenzwerte für Autoabgase sollten so umgangen werden. Die Diesel-Affäre wurde einer der größten Skandale der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Ein Kollateralschaden, der die Reden der Autobosse über einen möglichen grünen Verbrennungsmotor unglaubwürdig machte.

Und während Deutschland seine Scherben zusammenklaubte, starteten Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley und aus China mit brandneuen Mobilitäts-Modellen durch. Das stolze Autoland stand auf einmal mit dem Rücken zur Wand. Die hohe Abhängigkeit der Wirtschaft von der Autoindustrie wurde zur Achillesferse.

Eine Neu-Vermessung auf dem Prüfstand

Doch der Rückstand soll nun aufgeholt werden. VW, Daimler und BMW investieren Milliarden Euro in Stromantrieb, Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

Es ist eine Neu-Vermessung der Autoindustrie, die dieser Tage bei der Internationalen Automesse IAA in München, auf ihre Tauglichkeit geprüft wird.

Die Hersteller strecken sich dabei zur Decke: BMW präsentiert ein Fahrzeug, das zu 100 Prozent aus Altmaterial und nachwachsenden Rohstoffen besteht. VW-Chef Herbert Diess kündigt an, den CO2-Gesamtausstoß seiner Fahrzeugflotte in den kommenden zehn Jahren um 30 Prozent zu senken. Daimler stellt vier elektrische Modelle vor, Konzern-Chef Ola Källenius sagt, dass "bis Ende des Jahrzehnts alle Autos elektrisch sein werden.

Die Hersteller überbieten einander gegenseitig, wie in alten Zeiten, nur, dass es nun um den "nachhaltigsten Hersteller der Welt" geht, wie BMW-Chef Oliver Zipse es formuliert.

Und tatsächlich, in den Hallen der Messe wird die Zukunft greifbar: Wagen aus dem 3D-Drucker, Ein-Personen-Autos, E-Busse, selbstfahrende Fahrzeuge in allen Größen. Die Hersteller scheinen bereit zu sein, für die Verkehrswende.

Von Diesel und Benziner redet hier niemand mehr. Autos mit Verbrennungsmotor werden zwar noch ausgestellt, doch sie sind in einer eigenen Halle untergebracht, dort, wo es zu den Fahrrad-Ausstellern geht.

Sie passen nicht zum neuen modernen Auftritt, mit der die Autoindustrie das Land in erfolgreiche Zeiten führen will. Die Deutschen sollen schließlich wieder stolz sein auf ihre Automarken, von denen das Land so abhängig ist - und nicht an Tricksereien und umweltschädliche Abgase erinnert werden.

Doch so richtige Feierstimmung kommt nicht auf. Die Messe-Besucher laufen ungläubig durch die Hallen. Ein Mittfünfziger nimmt auf dem Fahrersitz eines elektrischen BMWi3 Platz. Regungslos sitzt er da und blickt minutenlang auf den Bordcomputer. "Ob man das alles so schnell ummodeln kann?", fragt er und bleibt noch eine Weile sitzen.

Ein anderer Besucher räumt ein, dass der Umbau der Autoindustrie passieren muss, um einen Beitrag gegen den Klimawandel zu leisten. Er frage sich aber, ob das geplante Tempo nicht zu hoch sein könnte. Und außerdem: "Wer kann sich so ein Auto noch leisten?", fragt er.

Skeptisch ist auch Sibylle Wankel, Chefin der Gewerkschaft IG-Metall München. "So wie es aussieht, wird es Motorenwerke künftig nicht mehr geben", sagt sie. "Damit fallen viele Arbeitsplätze weg und wir könnten schnell ein gesellschaftliches Problem kriegen." Sie verweist auf ein Werk in der Tübingerstraße, das ausschließlich Zulieferteile für Verbrenner fertigt. "Für die Mitarbeiter müsste eine Qualifizierungsoffensive her." Der zur Schau gestellte Erfolg der großen Autounternehmen steht zudem im Gegensatz zu den Klein- und Mittelbetrieben, sagt sie. "Die haben nicht die Marge, um so schnell und stark zu investieren."

Ein unangenehmes Thema für Angela Merkel

Sven Kesselring, Professor für nachhaltige Mobilität an der Wirtschafts-Universität Nürtingen-Geislingen in Baden-Württemberg gibt zu Bedenken, dass es mit dem Wechsel des Antriebs alleine, nicht getan ist. "Das Auto sollte ein Element im Gesamtsystem sein und nicht als Besitz gedacht werden." Außerdem sollte es auch um den Öffentlichen Raum gehen: "Wer hat das Recht die Straße zu benutzen?" Das Auto stehe derzeit zu sehr im Zentrum.

Zuletzt kochte auch wieder die Debatte um die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen hoch. Deutschland ist weltweit das einzige Land, wo man so schnell fahren kann, wie man will. Zwei Millionen Tonnen Emissionen ließen sich mit Tempo 130 einsparen, berechnete das Deutsche Umweltbundesamt. Der Bundestag ist bei dem Thema gespalten: Grüne, SPD und Linke fordern ein Tempolimit 130, FDP und Union sind dagegen.

In den gegenwärtigen Debatten rund um die neue Stellung des Autos, klimaschonenden Antrieben und ob, das nicht alles zu schnell gehe, zeigt sich die Verunsicherung, die sich quer durch Deutschland zieht. Eine Verunsicherung, die auch durch die Politik der langjährigen Bundeskanzlerin Angela Merkel verursacht wurde. Die Versäumnisse holen sie kurz vor ihrem Abgang - nach der Bundestagswahl am 26. September - ein. In den Umfragen liegt ihr Parteibündnis CDU/CSU erstmals in der Geschichte unter 20 Prozent.

Wie unwohl sie sich bei dem Thema fühlt, zeigte ihre Eröffnungsrede bei der IAA. Statt über die Autoindustrie zu reden, sprach sie zu Beginn lieber über die Corona-Pandemie. Als es dann doch um Verkehr ging, redete sie zuerst über den Fahrradboom und die Attraktivität von E-Fahrrädern für Berufspendler. Als sie am Schluss dann doch über Autos sprach, räumte sie ein, dass die Ladeinfrastruktur besser werden müsste und Deutschland ein starker Automobilstandort bleiben solle. Applaus und Abgang.

Ob und welche Konzepte es für einen starken Automobilstandort Deutschland gibt, lässt Merkel offen, auch ob Deutschland ein Stück weit unabhängiger von der Autoindustrie werden sollte, seinen Wohlstand mit anderen Wirtschaftszweigen stützen sollte. Es sind Fragen, die dringend beantwortet werden müssen.

Damit es Deutschland am Ende nicht ergeht, wie seiner langjährigen Bundeskanzlerin: Applaus und Abgang.