Berlin hat eine lange Tradition von Bürgermeistern, die sich über die Grenzen der deutschen Hauptstadt hinaus einen Namen gemacht haben. Da war Ernst Reuter (1948-1953), der mit den Worten "Schaut auf diese Stadt" einer sowjetischen Blockade trotzte, Willy Brandt (1957-1966), der später Bundeskanzler wurde oder Klaus Wowereit (2001-2014), an dem der Ruf des "regierenden Partymeisters" hängenblieb. Nun könnte Berlin, so wie Rom, Paris, Madrid, eine Bürgermeisterin bekommen.

Am übernächsten Sonntag (26. September) wird zeitgleich mit der deutschen Bundestagswahl ein neues Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Umfragen sehen die Sozialdemokraten klar vorne, und damit könnte deren Spitzenkandidatin Franziska Giffey Berlins Regierende Bürgermeisterin werden. "Mit Humor und Herz" wirbt sie auf großformatigen Wahlplakaten um Stimmen.

Mit ihren 43 Jahren hat die Mutter eines zwölfjährigen Sohnes schon eine turbulente Laufbahn hinter sich. Den Berlinern wurde die aus Frankfurt an der Oder stammende Ostdeutsche als Kommunalpolitikerin im Stadtbezirk Neukölln bekannt, wo sie 2010 Stadträtin und 2015 Bürgermeisterin wurde. Neukölln mit seinen 325.000 Einwohnern gilt als schwer regierbarer Problembezirk mit hoher Zuwanderung, Clan-Kriminalität und Schulchaos. Giffey erwies sich als Nachfolgerin des SPD-Urgesteins Heinz Buschkowsky als eine Politikerin, die die Probleme beim Namen nennt und nach pragmatischen Lösungen sucht.

2018 stieg sie in die Bundespolitik auf, im vierten Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde sie Familienministerin. Dort brachte sie unter anderem das "Gute-Kita-Gesetz" für eine bessere Kindertagesbetreuung auf den Weg, bevor sie über eine Plagiatsaffäre um ihre Promotion stolperte. Im Mai dieses Jahres trat sie als Ministerin zurück, die Freie Universität Berlin erkannte ihr den Doktortitel ab. Die Berliner Spitzenkandidatur, die sie zu dem Zeitpunkt schon innehatte, behielt sie aber.

Im Windschatten von Olaf Scholz

Giffey könnte nun davon profitieren, dass deutschlandweit der politische Wind zugunsten der Sozialdemokraten und ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz gedreht hat. Für viele Berliner dürfte zudem Giffeys persönliche Ausstrahlung und ihr Prestige als Neuköllner Kommunalpolitikerin mehr zählen als ihr akademischer Fehltritt. Sie gilt als Sozialdemokratin, die die Probleme mit Zuwanderung und Integration ohne ideologische Scheuklappen angeht.

Der bisherige Regierende Bürgermeister, der Wowereit-Nachfolger Michael Müller (SPD), tritt bei dieser Wahl nicht mehr an und hat damit den Weg für Giffey erst frei gemacht. Er kandidiert nun für den Bundestag. "Ich wollte immer Abgeordneter sein", sagte Müller in einem Interview der "Berliner Morgenpost", doch es gilt als offenes Geheimnis in Berlin, dass er bei den Genossen nicht mehr genügend Rückhalt für eine neue Spitzenkandidatur hatte und Gefahr lief, öffentlich von seiner Partei demontiert zu werden.

Die Bilanz von Müllers rot-rot-grüner Koalition aus SPD, Linken und Grünen ist durchwachsen. Die Verwaltung funktioniert schlecht, die Mieten sind in die Höhe geschossen, Straßenbauvorhaben ziehen sich endlos in die Länge, die Misere an etlichen Berliner Schulen ist sprichwörtlich, Kriminalität macht Teilen der Stadt zu schaffen.

Das größte Projekt von Rot-Rot-Grün, ein Mietendeckel, scheiterte krachend. Das Bundesverfassungsgericht kippte ihn mit der Begründung, das Land Berlin habe mit dem Einfrieren der Mieten für rund 1,5 Millionen Wohnungen seine Kompetenzen überschritten. Die betroffenen Mieter müssen das eingesparte Geld zurückzahlen.

Die Mietenfrage taucht am Wahltag nun wieder auf: Die Berliner Wähler sollen auch über ein Volksbegehren zur Enteignung aller Immobilienunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen entscheiden. Die Linke unterstützt die Initiative voll, die Grünen mit Vorbehalten, die SPD ist dagegen. Es geht zum Teil um Wohnungen, die die Stadt vor Jahrzehnten selbst privatisiert hatte. Die neuen Eigentümer zu entschädigen, würde Berlin laut Giffey 30 Milliarden Euro kosten.

Im Frühjahr lagen in Berlin noch die Grünen in der Wählergunst vorne. Mit ihrer farblosen Spitzenkandidatin Bettina Jarasch (52), die sich "mehr Bullerbü in der vibrierenden Hauptstadt" wünscht, sind sie in den Umfragen abgesackt. Jarasch gilt als genauso chancenlos wie der CDU-Bewerber Kai Wegner (49). Giffey, die auch für Konservative wählbar ist, hat derweil offen gelassen, ob sie nach einem SPD-Sieg die rot-rot-grüne Koalition überhaupt erneuern würde. "Wir treten an für SPD pur", sagte sie auf eine solche Frage im ZDF-"Morgenmagazin". (dpa)