Die Filmfestspiele von Cannes sind beinahe bei ihrer Normaltemperatur angekommen. Eine Pandemie? Fehlanzeige. Die gibt es hier nicht. Masken? Bloß als Empfehlung, nicht als Pflicht. Und so ist das erste Festivalwochenende an der Croisette mit unzähligen Schaulustigen, vollen Stränden, noch volleren Restaurants und einem dichten Filmprogramm vorübergezogen.
Fast möchte man dem Festival ein neues Selbstbewusstsein attestieren: Das erste Mal seit 2019 ist hier wieder überdurchschnittlich viel Prominenz anwesend, aus Frankreich, den USA oder Großbritannien: von Sharon Stone bis Julia Roberts, von Eva Longoria bis Alessandra Ambrosio. Die Preise sind - anders als in Österreich - kaum gestiegen, weil sie an der Côte dazur davor schon hoch waren. Und sie verharren (noch) auf diesem Niveau.
Stars, Stars, Stars
Was das Niveau des Cannes-Wettbewerbs angeht, so ist es bisher nicht durchgehend so hoch wie die Preise. Aber es ist immerhin eine bislang ordentliche Auswahl, die Festivalchef Thierry Frémaux zusammengestellt hat. "Armageddon Time" von James Gray erzählt etwa eine empathische Coming-of-Age-Geschichte, die Freundschaft und Loyalität, Bigotterie und rassistische Spannungen vor dem Hintergrund des Amerikas kurz vor der Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten schildert. Der Film ist mit Anne Hathaway und Anthony Hopkins starbesetzt, es fehlt ihm aber an Tiefe, weil hier die Schauwerte oftmals wichtiger erscheinen als die sozialen Themen, die der Film anreißt.
Der Russe Kirill Serebrennikov ist mit "Tchaikovskys Wife" im Wettbewerb, was an sich gerade während des Ukraine-Krieges auch das Signal an die Filmemacher Russlands war, dass man sie nicht gänzlich vom Bewerb ausschließt. Zugleich ist Serebrennikov aber auch als Kreml-Kritiker befreit von jedem Verdacht, der staatlichen Propaganda zuzuarbeiten. Der Film folgt der Titelfigur von ihren Tagen als aufstrebende junge Musikerin, die den bereits berühmten Komponisten kennenlernt und von ihm verzaubert wird, bis zu dem Moment, in dem sie ihn überzeugt, sie zu heiraten. Auch die Jahre danach, als sie sowohl ihren Mann als auch ihren Verstand verliert, stehen im Fokus des historischen Dramas, das sich auch an dem Umstand abarbeitet, dass der Komponist eigentlich schwul war und sich nicht in der Lage sah, seine Ehefrau zu lieben. Das drängt die Ehefrau an den Rand der Wahrnehmung, was sich konfliktreich zuspitzt und Darstellerin Alyona Mikhailova mit viel Präsenz ganz hervorragend auf die Leinwand bringt.
Von Brüdern und Schwestern
Konfliktreich ist auch die neue Arbeit von Arnaud Desplechin, ein Stammgast im Cannes-Programm, heuer mit seiner elften Arbeit in Folge hier: In "Frère et soeur" (Bruder und Schwester) hassen sich Alice (Marion Cotillard) und ihr Bruder Louis (Melvil Poupaud) bis aufs Blut. Das gesamte Familienleben ist zerrüttet und leidet darunter. Als ihre Eltern nach einem schweren Verkehrsunfall ins Spital gebracht werden, dämmert beiden, was nun auf sie zukommt: Sie werden sich nicht mehr länger meiden können und eine Begegnung scheint unausweichlich. All das inszeniert Desplechin mit einiger Hysterie, die er den Figuren zuschreibt. Poupaud und Cotillard sind großartig, wenngleich man so manche Anwandlung im Konflikt ihrer Figuren bis zum Ende nicht versteht. Aber wie so oft im französischen Kino muss nicht alles auserzählt werden, um zu wirken.

Hochspannend präsentiert sich "Boy From Heaven" des schwedisch-ägyptischen Regisseurs Tarek Saleh, der hier religiöse Lebensentwürfe mit den Elementen von Thriller- und Spionage-Genre kombiniert. Adam (Tawfeek Barhom) ist ein Fischersohn in der nördlichen Stadt Manzala, der überglücklich ist, als er von seinem örtlichen Imam die Nachricht erhält, dass er eine großzügige staatliche Förderung erhält, um islamisches Denken an der international renommierten Al-Azhar-Universität in Kairo zu studieren. Dort fordern ihn die Strenge der Ausbildung und die fromme Atmosphäre, ehe der große Imam stirbt und ein Nachfolger gesucht wird. Der Staat mischt sich ein und will einen genehmen Kandidaten durchsetzen. Um dies zu erreichen, wird Adam zum unfreiwilligen Spielball der politischen und religiösen Macht. Politik ohne Religion ist in dieser Weltregion undenkbar, und zumeist setzt sich die Religion durch, auch das zeigt dieser bislang vielleicht packendste und auch politischste Film der 75. Filmfestspiele in Cannes.
Aktuelle Themen
Die neuen Arbeiten zweier Palmen-Preisträger waren ebenfalls bereits zu sehen: Cristian Mungiu ("4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage") und Ruben Östlund ("The Square") zeigen, wie aktuell das Filmschaffen sein kann. Mungiu zeigt in "R.M.N.", die rumänische Abkürzung für Magnetresonanztomografie, das Leben in einem kleinen rumänischen Dorf, in dem eine EU-subventionierte Bäckerei Arbeitskräfte von weiter Ferne anlockt, die dort allerdings mit rassistischen Ressentiments zu kämpfen haben. Mungiu zeigt hier, wie wirtschaftliche Interessen auch die gesellschaftlichen Gefüge ins Wanken bringen können.
Östlunds "Triangle of Sadness" hingegen ist plakatives, zugespitztes Kino in Form einer scharfen Satire auf das Mode-Business. Im Mittelpunkt dieser schwarzen Komödie steht ein berühmtes Model-Paar, das zu einer Luxuskreuzfahrt für die Ultrareichen eingeladen wird. Das kann natürlich nicht gutgehen, komplettiert aber einen Festivaltrend: Schön zu sehen, dass Cannes auch den Aufrührern jeglicher Thematik ihren Raum gibt.