In Cannes begeistern in diesem Jahr vor allem die komplexen Frauenrollen, die die Programmauswahl zu bieten hat. Sie verweisen manchmal sogar dann die Herren der Schöpfung auf die Plätze, wenn es nicht Hauptrollen sind, sondern kleinere Parts. In Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon" (außer Konkurrenz, die "Wiener Zeitung" berichtete) ist es zum Beispiel die indigene Ehefrau von Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio), Mollie (Lily Gladstone), die die gesamte Aura dieses Crime-Dramas von epochalem Ausmaß ausmacht, ehe sie für die Macht- und Gier-Triebe der Männer geopfert wird. In dem Wettbewerbsbeitrag "About Dry Grasses" des Türken Nuri Bilge Ceylan ist es eine links engagierte Lehrerin, die nach einem Anschlag ein Bein verliert, aber in ihrem Rückzugsort in der Osttürkei auch keinen Frieden finden, weil es wieder zwei Störfaktoren in männlicher Gestalt gibt, die letztlich den Ton angeben. Aber es regt sich Widerstand in der männerdominierten Welt.

Kaouther Ben Hanias "Four Daughters" zeigt im Wettbewerb auf dokumentarischer Ebene, wie eine Frau, die zwei ihrer Töchter an den IS verloren hat, nachdem diese sich radikalisierten, mittels eines Substituts wieder zu sich findet: Die tunesische Regisseurin engagierte zwei Schauspielerinnen, die in die Rolle der verlorenen Töchter schlüpfen und die Mutter so mit den intimsten Gefühlen konfrontieren. Gut möglich, dass dieses Experiment dem Jury-Präsidenten Ruben Östlund und seiner Jury gut gefällt.

Filmisch dürfte Östlund jedenfalls auch die Strenge in Jonathan Glazers "The Zone of Interest" gefallen. Der Film erzählt aus dem Alltag des einstigen KZ-Leiters von Auschwitz und seiner Frau, Rudolf (Christian Friedel) und Hedi Höß (Sandra Hüller), die sich neben dem Vernichtungslager ein schmuckes Häuschen mit großem Garten, Pool und hoher Mauer erbaut haben.

Die Pool-Villa neben dem KZ

Dort leben sie ein Dasein wie im Paradies, nennen es bald ihre "Heimat". Auch hier betont der Film die Präsenz der Ehefrau stärker, er ist zu einem Gutteil aus ihrer Perspektive erzählt. Hedi, eine überzeugte Nationalsozialistin, lässt sich auch nicht vom stetig wummernden Geräusch des Todesbetriebs oder von den nächtlichen Feuern im Krematorium und dem Ascheregen beirren; Letzterer dient ihr gar noch als Dünger für die Blumen. Glazers Film ist verstörend, formal grandios, und er gibt seinen Hauptfiguren auch den Funken eines Gewissens, das diese freilich geflissentlich ignorieren.

Zurück ins 16. Jahrhundert führt "Firebrand" von Karim Aïnouz, in dem es wieder eine Frau ist, aus deren Perspektive erzählt wird: Catherine Parr (Alicia Vikander) war die sechste und letzte Frau des englischen Königs Henry VIII. (Jude Law), die verzweifelt versucht hat, den ungeliebten, fetten und chronisch kranken Gatten bloß nicht über Gebühr zu reizen, um nicht auf dem Schafott zu landen. Die offene Wunde an seinem Bein wird dem König bald das Leben kosten, aber ob das schnell genug passiert, um selbst als Königin die Nachfolge anzutreten, ist ungewiss. Ein düsterer Blick auf eine raue Zeit, mit einer stoisch agierenden Vikander und einem aufbrausenden Law, der in seiner Maskerade aussieht, als säße hier Nicholas Ofczarek am Thron.