Wenn sich das Festival von Venedig dem Ende zuneigt, wird hier nicht selten die eine oder andere Entdeckung ruchbar, und zwar oft außerhalb des Wettbewerbs, in Nebenreihen oder außer Konkurrenz. Diese Entdeckungen sind oftmals nicht von breitenwirksamer Natur, weshalb sie die Festivalprogrammierer dezent in den schwächeren Festivaltagen verstecken. "State Funeral" von Sergei Loznitsa zum Beispiel, ein Stamm-Regisseur in Venedig. Der in Berlin lebende ukrainische Filmemacher hat den interessanten Versuch unternommen, die vier Tage von Stalins Tod bis zu dessen Beerdigung zwischen 5. und 8. März 1953 nachzuzeichnen. Das Archivmaterial, das Loznitsa hierfür aus verschiedenen Archiven zusammengetragen hat, wurde in Moskau, Prag, Berlin, Warschau und großen sowjetischen Städten aufgenommen. Seltene Aufnahmen, manche bislang unveröffentlicht, zeigen die Übermacht, die Stalin selbst nach seinem Tod noch auf das russische Volk ausübte. Von der Verkündung von Stalins Tod bis zum Begräbnis am Roten Platz bleibt "State Funeral" chronologisch und bietet dem Zuschauer die Gelegenheit, diese Zeitspanne hautnah mitzuerleben.

Ebenfalls ein versteckter Nischenfilm stand in Venedig mit "Pelikanblut" auf dem Spielplan. Die deutsche Regisseurin Katrin Gebbe hat darin sozusagen die noch jüngere Version des demnächst bei uns im Kino anlaufenden und bei der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichneten Dramas "Systemsprenger" von Nora Fingscheidt gedreht: Nina Hoss kommt mit ihrer fünfjährigen Adoptivtochter Raya aus Rumänien einfach nicht klar. Wie in "Systemsprenger" stehen die Ausraster des Kindes im Vordergrund, aber in "Pelikanblut" scheint all das noch einen Tick schärfer, härter, brutaler. Raya verschmiert das Bad mit Kot, spießt Tiere auf, führt anderen Kindern bei Doktorspielen Äste in den After ein; die völlig überforderte Adoptivmutter kämpft mit den absurdesten Mitteln gegen Rayas Ausbrüche an.

Ein Joker hat Chancen

Was die Preisverleihung am Samstagabend angeht, so hat die Jury um Lucrezia Martel einen guten Wettbewerb gesehen, der auch vielgestaltig war; es gab keine großen Ausreißer, weder negativ noch positiv. Für viele hat Joaquin Phoenix hier als "Joker" die besten Chancen auf den Darstellerpreis, ein Goldener Löwe wäre allerdings etwas zu hoch gegriffen. Da gibt es andere Kandidaten, die sich auch und vor allem politisch, gesellschaftlich, zeitgenössisch hervortun, etwa "The Perfect Candidate" von Haifaa Al Mansour über den Kampf einer Ärztin in Saudi-Arabien, oder auch "Ema" des Chilenen Pablo Larrain über eine Mutter, die ihre adoptiertes Kind zurückgibt. Letztlich ist auch "The Laundromat" von Steven Soderbergh ein Stück politisches Kino, mit Meryl Streep als einer geschädigten Witwe, der die Versicherung nichts zahlen will, weil sie in die Machenschaften rund um die Panama Papers verstrickt ist. Doch all diesen Filmen fehlt in Wahrheit die Durchschlagskraft wie sie im Vorjahr in Alfonso Cuarons "Roma" zum Vorschein kam, der hier am Ende den Hauptpreis gewann. Diesen einen großen Wurf, den gab es heuer in Venedig nicht.

Dennoch waren da noch jede Menge interessante Filme zu sehen: Spät ins Rennen um den Goldenen Löwen war der chinesische Beitrag "Saturday Fiction" von Lou Ye gegangen, in dem eine Schauspielerin, die als Spionin für die Alliierten arbeitet, im Shanghai des Jahres 1941 den Angriffsplan der Japaner auf Pearl Harbor entdeckt. Gong Li bringt sich als beste Schauspielerin ins Spiel, denn sie ist das Highlight dieses in elegantem Schwarzweiß gefilmten Thrillers, der allerdings nicht die Dichte und die dramaturgische Finesse von Lou Yes Meisterstück "Suzhou River" (2000) hat. Das tragische Krebs-Drama "Babyteeth" der Australierin Shannon Murphy - neben Haifaa Al Mansour die einzige Frau im diesjährigen Wettbewerb - hat starke Momente, ist am Ende aber zu konventionell in Figurenzeichung und Inszenierung, um wirklich in Erinnerung zu bleiben. Auch Robert Guédiguians "Gloria Mundi" über einen frisch aus der langjährigen Haft entlassenen Neo-Großvater, der seine eben geborene Enkelin kennenlernt und darüber auch die alten Familienkonflikte wieder anheizt, ist zwar mit Nachdruck erzählt, aber kein Drama von großem Nachhall. "Martin Eden", die Verfilmung des autobiografischen Romans von Jack London, der 1909 veröffentlicht wurde, hingegen eroberte die Zuschauerherzen am Lido: Die Geschichte eines Schriftstellers aus der Unterschicht, der sich um ein Mädchen aus höheren Kreisen bemüht, ist unter der Regie des Italieners Pietro Marcello zu einem Film geworden, der vieles, was zur Zeit Jack Londons noch Fiktion war, bereits mit dem Wissen von heute konfrontiert.

Zum Schluss kam Johnny Depp. Mit dem Wettbewerbsfilm "Waiting for the Barbarians" von Ciro Guerra nach dem Roman von John M. Coetzee hatte Depp am Freitag seinen Auftritt am Lido, der zu dieser Zeit Stars wie ihn dringend braucht: Denn zu der Zeit weilen viele der Journalisten längst nicht mehr hier, sondern im fernen Toronto, wo eine größere Star-Dichte mehr Glamour verheißt. Matthias Greuling