Maskenpflicht, Abstandsregeln, fehlerfreies Online-Buchungssystem - zur Überraschung aller hat die Organisation des Filmfestivals von Venedig in diesem Ausnahme-Jahr tadellos funktioniert. Wer hätte gedacht, dass das Klischee vom heillos überforderten Italien in solchen Situationen überhaupt nicht zutrifft? Festival-Chef Alberto Barbera hat jedenfalls die Vorlage geliefert, wie man ein Festival in Zeiten der Pandemie umsetzen kann: nämlich mit entschlossener Besonnenheit, anstatt schon am zweiten Festivaltag bei den Vorschriften die Augen zuzudrücken. Das ist es, was diese Krise das Land gelehrt hat, und es zeigt auch, dass es künftig problemlos möglich wäre, Wartezeiten, Gedränge vor dem Kino und unnötige Hysterie zu vermeiden, all das also, wofür man Massenveranstaltungen wie diese ohnehin schon immer gehasst hat.
Stattdessen wurde es diesmal wieder möglich, den Fokus aufs Wesentliche zu lenken: die Filme. Von denen gab es heuer durchaus weniger, was die Auswahl allerdings akzentuierter erscheinen ließ. Neben weitgehend beklatschten Filmen wie "The World to Come" von Mona Fastvold, "Quo vadis, Aida?" von Jasmila Zbanic oder "Pieces of a Woman" von Kornél Mundruczó (die "Wiener Zeitung" berichtete) gab es in der zweiten Festivalhälfte zunehmend auch forderndes Kino aus entlegenen Regionen der Welt.

Frei und voller Gefühl
Etwa "In Between Dying" des aus Aserbaidschan stammenden Filmemachers Hilal Baydarov. Der folgt darin einem männlichen Protagonisten, der sich nach einer Zufallstötung auf der Flucht durch seine Heimat befindet, die der Regisseur anhand dieser Flucht ganz wunderbar cineastisch abbildet: Hineingestoßen in eine Situation, die er nicht selbst provoziert hat, wird dieser Held wie aus einem Hitchcock-Thriller in einen Arthaus-Film transferiert, zurückgeworfen auf sich selbst, immer wieder in haarsträubende Situationen von Gewalt und Tod stolpernd, dabei aber eigentlich auf der Suche nach Sinn in einer für ihn fremder werdenden Welt. Regisseur Baydarov bezeichnet seinen Film als Kino der Zufälle, als ein spontanes, ungeplantes, von innerer Stimmung getriebenes, das nicht über das Leben reflektiert, sondern es wie ein sinnlicher Rausch aufsaugen will, in der Hoffnung nach einer Antwort, einer Direktive. Ob dieses Kino hier auch preiswürdig ist und der Jury um Cate Blanchett gefällt, wird sich am Samstag Abend zeigen, wenn in Venedig die Löwen vergeben werden. "In Between Dying" stünde immerhin für ein gänzlich anders gelagertes Kino, als es der Kunst-Mainstream in den letzten Jahren geboren hat: frei, voller Gefühl und voller Aufbegehren gegen diesen Mainstream.
Auch Gianfranco Rosi, der hier mit seiner Doku "Sacro Gra" (2013) schon einmal den Goldenen Löwen gewonnen hat, reklamiert diese Attribute gern für seine Filme: Der cinephile Dokumentarist hat für "Notturno" drei Jahre lang verschiedene Länder des Nahen Ostens bereist, zeigt dort Schicksale und Leiden, aber auch Alltag und Hoffnung; er will die so typisch gewordenen Fernsehbilder aus Krisenregionen des Nahen Ostens gerne ausklammern, komponiert stattdessen kraftvolle Kinobilder zu einem Kaleidoskop der Bitternisse dieser Weltregion und zeigt in vielen langen und langsamen Bildern, wie das Leben abseits der Kriegs-Action aussieht. Er findet jene Menschen, von denen die TV-Kameras gewöhnlich wegschwenken. Genau hingesehen wird von den Medien hingegen zumeist bei den Auswüchsen rechtsextremer Gruppierungen in Deutschland. Dort sieht sich Julia von Heinz deutscher Wettbewerbsbeitrag "Und morgen die ganze Welt" um.
Antifa und Neonazis
Er erzählt von der 20-jährigen Luisa (Mala Emde), eine Jus-Studentin, die am Land wohnt, sich aber in der Großstadt einer linken Kommune anschließt und mit dieser in die Antifa-Szene eintaucht. Es werden Störaktionen bei Kundgebungen rechter Politiker geplant, man hängt aber auch zusammen ab und trainiert Boxen, druckt Flugblätter, füllt ausgeblasene Eier mit Farbe zum Bewerfen der Gegner, es ist ein bisschen Revolution in der Luft, aber ob das schon reicht, um das Leben in Deutschland zu verändern, so wie Luisa sich das wünscht? Die Truppe unterwandert eine Neo-Nazi-Formation, um mehr über einen geplanten Anschlag herauszufinden, doch bald werden auch Verbindungen in höchste Polit-Kreise sichtbar.
Regisseurin von Heinz arbeitet ambitioniert an diesem übergroßen Thema, sie findet auch emblematische Bilder, aber über die reine Abbildung der Ereignisse kommt ihr Film letztlich nicht hinaus; es sind die Grundfragen zum demokratischen Diskurs, die der Film zwar plakativ stellt, sie aber keineswegs beantwortet. Der gezeigte Aktionismus reicht für eine Schlagzeile, aber nicht für einen Lösungsansatz der Probleme. Das muss auch Luisa hinnehmen, durch die die Regisseurin auch lautstark kundtut, woran ihr gelegen ist: An einer moralischen Neuorientierung dieser Gesellschaft, in der so vieles aus den Rudern läuft. "Und morgen die ganze Welt", anspielend auf den alten, von den Nazis veränderten Liedtext zu "Es zittern die morschen Knochen" von Hans Baumann, ertränkt den Glauben an die Demokratie ein bisschen in seinem eigenen politischen Übereifer.
Aber es geht noch radikaler: Auch in "New Order" des Mexikaners Michel Franco gehen Menschen auf die Straße, nur: Es ist ein völlig brutales Aufbegehren der Armen gegen die reiche Elite. In Mexiko sind die Gegensätze an diesen beiden Polen besonders stark, was den Film für so manchen Zuschauer, der die Verhältnisse kennt, zu einer Doku macht. Das Fiktionale daran sind allerdings die Menschen, die einer Horde Zombies gleichen und die mit grüner Farbe und brutaler Waffengewalt in die Häuser der Gutbetuchten einfallen und dort totales Chaos auslösen.
Das Chaos regiert
Es wird gemordet, auf den Straßen türmen sich die Leichen, Raub, Gewalt und eine machtlose Polizei sind die Begleiter dieser Unruhen, in deren Verlauf es bei einer neureichen Hochzeitsgesellschaft zur Katastrophe kommt: Dutzende Tote, eine verschwundene Braut, die später entführt und schwer misshandelt wird, eine Lösegeldforderung in Millionenhöhe, ein korruptes Militär und noch korruptere Politiker, kurz: Der ganz normale Wahnsinn, den Mexiko tagtäglich erlebt, zugespitzt auf ein Chaos-Theater der Sonderklasse. "New Order" ist Kino von unglaublicher Härte und abscheulicher Brutalität.
Den Abschluss im Wettbewerb bildete am Freitag Chloé Zhaos poetisch umgesetztes Drama "Nomadland": Frances McDormand brilliert darin als die 60-jährige Fern, die nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ihres Arbeitgebers den Ausstieg wagen muss. In ihrem Van reist sie heimatlos durch den Westen der USA, von Trailerpark zu Trailerpark, immer auf der Suche nach ein bisschen Nähe zu anderen, die auch ein solches Leben wagen müssen. Es ist, gerade in Zeiten der Pandemie, ein Film, der das Miteinander propagiert anstatt die Spaltung. Das macht ihn zu einem würdigen Abschluss dieses Wettbewerbs.