Es gibt bei Filmfestivals immer einige Filme, die im Vorfeld besonders gehypt werden: "Bones and All" von Luca Guadagnino gehört dazu. Der neue Film des Regisseurs von "Call Me By Your Name" (2017) wurde mit Vorschusslorbeeren überhäuft, die nur zum Teil gerechtfertigt sind. Guadagnino erzählt in seiner Horror-Romanze die Geschichte von der kannibalischen Liebe zwischen Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) - beide entdecken einander über den Geruchssinn, ihre gemeinsame Leidenschaft, Menschen zu essen, ist für sie mehr Zwang als Genuss. Und am Ende bleibt natürlich die Frage, wer wen verspeist. So exzessiv Guadagnino die kannibalischen Akte inszeniert, was durchaus auf den Magen geht, so nachlässig ist er in der Dramaturgie des Films, dessen Stationen wie bei einem Roadtrip nacheinander routiniert abgehandelt werden. Guadagninos Glück sind seine Hauptdarsteller, die eine Chemie füreinander entwickeln. Das ist zugleich auch die Metaebene, die "Bones and All" verhandelt: Wie eine Metapher erzählt der Film über das Einander-riechen-können in Zeiten pandemischer Vereinsamung.
Bisher hatte Venedig vor allem große Namen zu bieten: Der Eröffnungsfilm "White Noise" von Noah Baumbach, der nach einer Vorlage von Don DeLillo von einem US-Hitler-Forscher (Adam Driver) und seiner Frau (Greta Gerwig) erzählt, während ein Chemieunfall allerorts Panik verbreitet, ist kurzweilig, hat seine guten Momente und auch eine erstklassige Besetzung. Treffend formulierte es ein Kollege: Es sei der erste Film von Noah Baumbach, der nicht langweile.
Viele Kritiker langweilten sich aber bei "Un couple" von Frederick Wiseman. Der nur etwas mehr als einstündige Wettbewerbsbeitrag ist ein Geduldspiel, und doch ist Wiseman, dieser seit Jahrzehnten unermüdliche Dokumentarist amerikanischer Lebensrealitäten und sozialer Umstände, in seiner neuen, narrativen Arbeit ganz und gar kurzweilig und hautnah an der Realität einer Liebesbeziehung dran: Jener von Leo Tolstoi und seiner Ehefrau Sophia, gespielt von Nathalie Boutefeu. Die rezitiert hier vor einer Küstenkulisse Briefe der Ehefrau an ihren Mann, in der das Versagen Tolstois als Ehemann und Familienvater offenkundig wird; und auch das Wehklagen einer im Grunde stets übersehenen Frau, die für ihre Familie gelebt hat, dem Ego des Künstlers, ihres Mannes, aber nicht gewachsen war. Ein berührendes Stück Kino, alles andere als langweilig.
Surreal und episch geht es in Alejandro G. Iñárritus neuem Spielfilm "Bardo, False Chronicles of a Handful of Thruths" zu. Darin erzählt der Mexikaner, der in den USA Regie-Karriere machte und fünf Oscars gewann, von seinem Alter Ego in der alten Heimat: Alles dreht sich um einen mexikanischen Journalisten und Dokumentarfilmer, in dessen Figur viel Iñárritu steckt. Über drei Stunden lässt Iñárritu seine Zuschauer an seinen Gedanken teilhaben und arbeitet sich an Fragen kultureller Identität ebenso ab wie an der Außensicht des Regisseurs von den USA aus auf seine Heimat. Die Netflix-Produktion wird Ende des Jahres im Programm des Streamingdienstes zu sehen sein.