Mette Ingvartsen kennt kein Tabu, legt den Finger oder auch die Zehen in Wunden, die man noch nicht kennt. In ihren "Red Pieces" - bisher sind es vier, zwei Solos und zwei Gruppenstücke, eine Fortsetzung könnte folgen - dreht sich alles um Sex, auch um Pornografie, um das Begehren und die Lust, und wie das alles mit Politik und Kapital zusammenhängt. Der erste Teil der roten Serie ist 2014 entstanden: "69 positions", ein Solo, das als eine Art Einführung und Geschichtsstunde genossen werden kann. Für das Impulstanz Festival hat sie im Kasino am Schwarzenbergplatz damit auch die Serie eröffnet.

Es folgen die Gruppenstücke "7 Pleasures" und "to come (extended)", zum Schluss wirbelt Ingvartsen in "21 pornographies" wieder solo über die Bühne des Volkstheaters.

Also zu Beginn das von ihr "ausschweifende Trainingsvorstellung" genannte Solo auf der kleinen Bühne des Casinos. Das Publikum steht, sitzt rund um die Tänzerin, Erzählerin, Vorleserin, Ausstellungskuratorin und Führerin. Mette Ingvartsen stellt sie alle dar, denn sie will über die Initialzündung für ihre intensive Beschäftigung mit dem Thema erzählen, bis in 1960er Jahre zurückblicken, als die Nacktheit neu entdeckt worden ist.

Nicht schwindlig werden

Man betrachtet Bilder und Videos, schaut Ingvartsen zu, wie sie während sie plaudert, lässig ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegt und ebenso entspannt wieder hineinschlüpft, versucht, nicht selbst schwindlig zu werden, wenn sie sich in Ausschnitten aus eigenen Stücken als nicht zu bremsender Kreisel um sich selbst dreht oder ihre Hinterbacken zittern lässt. Willig versuchen alle nachzuvollziehen, was sie vorschlägt, um die Energie zu spüren, die die Rockmusik in den Körper überträgt: "Es ist ein haptisches Erlebnis. Die Augen werden zu Händen und Sie spüren wie die Energie auch ihren Körper durchdringt." Die Aufforderung zum Tanz verhallt noch ungehört.

Nackter Protest

Doch Ingvartsens Charme, ihre mit Humor gepaarte Intelligenz und die unbekümmerte Ernsthaftigkeit siegen letztlich. Bald bildet sich Intimität in der auf 70 Zuschauer beschränkten Gruppe. Das Publikum folgt ihr willig bis nach New York, wo die Anhängerinnen der heute 90-jährigen Künstlerin Yayoi Kusama nackt vor der Börse in der Wall Street demonstrierten. Der Protestaktion war genehmigt, doch die Nacktheit provozierte, die Handschellen klickten. In der 1968er Bewegung, sagt Ingvartsen, waren der nackte Körper und Sexualität auch ein Medium des Protests. Und tanzt einen Ausschnitt aus ihrem Solo "50 / 50" (Impulstanz 2006). Nackt in Turnschuhen, den Kopf von einer knallroten Wuschelperücke bedeckt, demonstriert sie, von der Musik inspiriert, allgemein codierte Bewegungsmuster.

Mit perfektem Timing wechselt Ingvartsen von der Ausstellungsführerin zur Performerin, sitzt unter der Leselampe und kommt auch zum Inhalt ihrer "Red Pieces"-Serie: Dass Sex und Lust etwas Persönliches, Intimes seien, ist ein Irrtum, Lust und Liebe sind Teil der Gesellschaft, der Politik und auch der Wirtschaft. Dennoch: Sex ist Lebensfreude, der auf jegliche Weise gefrönt werden darf. Als Demonstration leckt sie mit Lust an der Lampe. Wie bei allen Stücken der Serie, erreicht die Tänzerin und Choreografin Distanz durch Esprit und Witz, bleibt cool und überlässt es der Fantasie des Publikums, den Pornofilm zu erzeugen. Auf der Bühne ist er nicht zu sehen. Das erfährt das Publikum am Ende ihrer "discursive practice performance" durch vier Freiwillige. Zwei Männer, zwei Frauen bekommen Ohrstöpsel, damit sie die Orgasmus-Musik vom iPod hören können, der multiple Höhepunkt wird stöhnend und jubelnd nachgeahmt. Im Raum hängt noch die Hitze der vergangenen Tage, deshalb kann ohne Genieren geschwitzt werden. Ingvartsen verabschiedet sich mit einem Sessel als Lustobjekt - er wird von ihrem Unterleib nicht berührt und dennoch . . .

Mehr wäre wünschenswert, doch auch Ingvartsen hat nach fast zwei Stunden genug geschwitzt, obwohl sie schon lange nackt ist.