Shokat-Ali Walizadehs Weg in die Arbeit führt von Floridsdorf in die Josefstadt. Am Praterstern muss er umsteigen. Er nimmt die Rolltreppe zur U-Bahn. Er beeilt sich. Nicht, weil er spät dran ist, sondern weil er sich hier unwohl fühlt. Er sieht, wie die Polizei ein paar junge Afghanen einkreist. Die Beamten kontrollieren sie auf Drogen. Der Praterstern hat ein Problem mit dealenden Afghanen. Shokat-Ali ist auch Afghane. Er nimmt keine Drogen. Trotzdem denkt er sich: "Soll ich hingehen und fragen: Möchten sie mich auch kontrollieren?".
Afghanen dealen. Afghanen vergewaltigen. Afghanen stechen zu. Kaum eine andere Bevölkerungsgruppe ist so in Verruf geraten wie sie. Bei dem Wort "Afghane" klingeln bei manchen die Alarmglocken. Eine Welle von Gewalttaten schreckte das Land zu Beginn des Jahres auf. Wieder waren junge Afghanen involviert. Politiker sprechen von einer "Problemgruppe". Die Medien tragen zu diesem negativen Bild bei. Eine ganze Bevölkerungsgruppe wird pauschal verurteilt. Die bösen Afghanen.
Afghanen leben nicht erst seit 2015 in Österreich. Sie wanderten bereits vor mehr als 40 Jahren ein. Sie haben Vereine gegründet, Restaurants eröffnet, sind zu Staatsbürgern geworden. 45.000 leben in Österreich. Jeder Sechste gilt laut Kriminalstatistik als tatverdächtig. Eine ganze Minderheit steht unter Generalverdacht. Die Community leidet darunter. Sie kommt in den Medien nicht zu Wort.
Wer also sind die Afghanen? Wie sind sie integriert, wie gehen sie mit dem schlechten Image um?
Walizadeh trägt ein gestreiftes Hemd, darüber ein dunkelblaues Sakko und Jeans. Er sieht aus wie Geschäftsmann. Er spricht fließend Deutsch. Die Melange im Café Eiles bestellt er wienerisch. Er wohnt in Floridsdorf. Ein Leben woanders könnte er sich nicht vorstellen. "Ich bin in Afghanistan geboren, aber lebe seit einigen Jahren hier, das ist meine Identität".
Aus seiner alten Heimat musste er fliehen. Er ist in Ghazni, einer Stadt südlich von Kabul, aufgewachsen. Er hat maturiert. In Workshops hat er Menschen, die keine Chance auf eine Schulbildung hatten, Kinder- und Frauenrechte nähergebracht. Damit hat er Probleme bekommen. Das war 2007. Fast ein Jahr lang war er auf der Flucht. Als er Österreich erreicht, weiß er nicht, in welchem Land er sich befindet. Die Polizisten tragen blaue Uniformen. Sie haben ihn in einem Zug an der österreichisch-italienischen Grenze festgenommen. Er wurde befragt, musste sich ausziehen. Ein Hund schnüffelte an seinen persönlichen Dingen. Seine Ankunft war demütigend. Danach kommt er in das Asylzentrum im 550-Seelen-Ort Annaberg in Niederösterreich. Es gibt keine Beschäftigung für ihn: Kein Fernseher, kein Fußball, kein Deutschunterricht. Sein Leben besteht nur aus Essen und Schlafen. "Dieses Jahr zählt für mich nicht als Leben", sagt Walizadeh.
"Schlagzeilen haben negative Wirkung"
Erst als er einen Platz in einem Deutschkurs bekommt, ändert sich sein Alltag. "Das ist meine Wiedergeburt", sagt er. Elf Jahre sind seither vergangen. Er hat Deutsch gelernt, eine Ausbildung zum Zahntechniker abgeschlossen. Er war fleißig, so wie man es von Flüchtlingen wie ihm erwartet. 2010 hat er den afghanischen Sport- und Kulturverein "Neuer Start" gegründet. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung 2015 trifft Walizadeh eine Entscheidung: Er will helfen. Er glaubt daran, dass Integration gelingen kann. Dafür gibt er seinen Job als Zahntechniker auf. Er hilft in Asylheimen, betreut Langzeitarbeitslose. Heute arbeitet er bei "Core", einem Integrationsprojekt der Stadt Wien.
Walizadeh ist gut vernetzt in der Community. Was er von befreundeten Afghanen hört, beunruhigt ihn. "Die Schlagzeilen über Asylwerber haben eine negative Wirkung", sagt er. Afghanen haben es schwer, eine Wohnung zu finden. Freunde von ihm zittern um ihre Jobs, weil der Chef plötzlich anders über sie denkt. Er erzählt von einem afghanischen Arzt, der eine Wohnung kaufen wollte. Der Vertrag war in trockenen Tüchern. Dann fragte die Verkäuferin nach der Herkunft des Käufers. Der Wohnungskauf platzte.
Die Vorurteile gegenüber Afghanen verfestigen sich. Deswegen gelinge Integration nur, wenn beide Seiten mitmachen, sagt Walizadeh. Gerade die jungen Afghanen, die im Krieg aufgewachsen sind, brauchen Betreuung. "Was erwarten sie von diesen Menschen? Sie haben nichts zu tun, ihre psychischen Probleme nehmen zu." Der Verein Hemayat kümmert sich um kriegstraumatisierte Flüchtlinge. Die mit Abstand größte Gruppe, die betreut wird, sind Afghanen. Therapieplätze sind knapp, die Gelder reichen kaum. "Wenn die Regierung die Integrationsmittel streicht, werden diese jungen Leute zu Kriminalität eingeladen", sagt er. Sie brauchen von Anfang an psychologische Hilfe.
Walizadeh ist heute kein Flüchtling mehr. Er fühlt sich als Österreicher. Er hofft, bald auch auf dem Papier ein Österreicher zu sein. Sein Antrag auf Staatsbürgerschaft liegt beim zuständigen Magistrat. Mit etwas Glück kann er bei den nächsten Nationalratswahlen seine Stimme abgeben. "Ich möchte mitbestimmen und mitgestalten. Ich zahle ja auch Steuern." Walizadeh bezahlt seine Melange, steht auf und verabschiedet sich mit einem festen Händedruck.
Sport als Integrationsmotor
Zum Begrüßen hat Amir Sahil gerade keine Zeit. Er legt seine Handfläche auf den grünen Linoleumboden. Dann beugt er seinen Oberkörper langsam nach vorne. Seine Beine spreizt er zum Spagat. "Langsam", sagt er. Alle hören auf Sahils Kommando. 15 Teilnehmer, die Jüngste zwölf Jahre, der Älteste 55, mühen sich in einem Turnsaal in Wien-Ottakring, Sahils Position korrekt nachzumachen. Schweiß dringt aus ihren Poren. Das Blut steigt ihnen ins Gesicht. "Gut gemacht", lobt Sahil, schwarze Haare, weißes Shirt und blaue Shorts.

Wenn von Integration die Rede ist, dann bringen Österreicher in der Regel den Flüchtlingen etwas bei: die Sprache, die Werte, die Kultur. Bei Sahil ist es umgekehrt. Jeden Samstag trainiert er Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Kickboxen. Sahil hat für Österreich gekämpft. Nicht im Krieg, sondern bei Kickboxing-Meisterschaften. Er trägt den Titel eines Europameisters. "Das nennen wir Integration", steht auf der Homepage seines Clubs. Punches, Hooks und Uppercuts heißen die Schläge in diesem Sport. Er übt sie, seit er 14 ist.
Vor sechs Jahren ist Sahil in einem Lkw nach Österreich gekommen. Als Angehöriger der verfolgten Hazara-Minderheit musste er Afghanistan verlassen. Traiskirchen, Asylantrag, negativer Bescheid. Seine ersten Monate verbringt er bei Behörden und im Asylheim. "Ich hatte Angst, abgeschoben zu werden", erzählt er. Doch seiner Beschwerde wird stattgegeben. Er darf in Österreich bleiben.
"Runter", sagt Sahil. Liegestütze stehen auf dem Programm. Die Teilnehmer schnappen nach Luft. Jetzt wird aufgewärmt, das eigentliche Training beginnt danach. Sahil bildet keine Schläger aus. Er fördert die Gemeinschaft. "Die Jugendlichen freuen sich, wenn sie wertgeschätzt werden", sagt er. Nach jeder Übung lächelt Sahil breit. Lachfalten graben sich in sein Gesicht. Er strahlt etwas Positives aus. "Kickboxing ist zwar ein Kampfsport, aber es geht hier nicht um Aggression. Die Fairness ist sehr wichtig", sagt ein Teilnehmer, der seine zwölfjährige Tochter mitgebracht hat. Sie hatten keine Berührungsängste.
Sahil liebt den Sport. Bei einer Tasse Tee am Brunnenmarkt erzählt er später, dass Menschen ihn oft auf seine Erfolge im Kickboxen ansprechen. Sie bewundern ihn, klopfen auf seine Schulter. "Und dann fragen sie, woher kommst du?" Die Reaktionen sind nicht neu für ihn. Er ist sie gewohnt. "Ich sehe es den Menschen an, wie sich die Begeisterung einbremst, weil ich aus Afghanistan bin." In der U-Bahn schaut er oft in sein Smartphone. Er meidet die Blicke der Menschen. Die negativen Berichte in den Zeitungen stören ihn. "Es gibt viele Afghanen, die Gutes machen. Aber die positive Seite kommt nicht in den Medien".
Entmutigen lässt er sich davon nicht. Er verfolgt seine berufliche Karriere ebenso zielstrebig wie den Sport. In Traiskirchen hat er in der Küche ausgeholfen. Später absolvierte er eine Ausbildung zum Freizeitpädagogen. Nebenbei lernt er auf der Abend-Handelsakademie für die Matura. Das Studium ist das nächste Ziel, dass er sich gesetzt hat.
Freiheit erst in Österreich
Najiba Jamali ist diesem Ziel schon ein Stück näher. Über der jungen Afghanin ragt das Dach des imposanten Baus der verstorbenen Stararchitektin Zaha Hadid. Das Hauptgebäude der Wirtschaftsuniversität wirft seinen Schatten auf sie. Studenten eilen mit Laptops zur Vorlesung. Sie sind die Manager von morgen. Sie werden Karriere machen. Jamali arbeitet hart an ihrer eigenen.
Sie wurde in Afghanistan geboren. Gemeinsam mit ihrer Familie flieht sie vor dem Bürgerkrieg in das Nachbarland Iran. 2016 ist sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder nach Österreich gekommen. "Am Anfang war es sehr schwierig. Ich hatte keine Erfahrung damit, allein zu leben", sagt Jamali. Die Sprache zu lernen, verlangte der heute 25-Jährigen alles ab. Der Alltag steckte voller Rückschläge. "Bist du deppert, verstehst du mich nicht?", herrschte ein Verkäufer sie einmal an. Sie sprach nur gebrochen Deutsch. Jamali schämte sich dafür. So sehr, dass sie oft zu Hause blieb. "Das war der falsche Weg. Man muss kämpfen, irgendwo beginnen."

In einem Café am Campus der WU erzählt Jamali ihre Geschichte. Sie nippt am Kaffee und streicht sich die braunen Haare aus dem Gesicht. Im Iran wäre dies verboten. Sie sagt, ihre Familie sei liberal. Religion spielt keine besondere Rolle in ihrem Leben. Doch die islamische Republik zwingt Frauen, ein Kopftuch zu tragen. Auch Jamali kann nicht ohne Kopfbedeckung das Haus verlassen. Erst in Österreich kann sie sich frei fühlen. Doch auch hier sei es für sie als Afghanin am Anfang schwierig gewesen. "Ich wurde oft komisch von anderen Afghanen angesehen. Aber ich bin ein unkonventioneller Mensch. Mir ist es egal, was die Menschen über mich sagen."
Als Geflüchtete muss sie sich dauernd rechtfertigen. "Was, du kommst aus Afghanistan?", fragt sie einmal eine Österreicherin. Eine junge, gebildete Afghanin passte nicht in die Vorstellung der Frau. Jamali war schockiert. "Warum haben die Menschen ein schlechtes Bild von uns, was haben wir falsch gemacht?" Sie ist genervt von Medienberichten, in denen von kriminellen Afghanen die Rede ist. Sie hat damit nichts zu tun. Nur selten würden Afghanen in einem positiven Kontext erwähnt werden.
Auch wenn es um die finanzielle Unterstützung geht, fühlt sie sich diskriminiert. Etwa dann, wenn Menschen sagen "Sie ist Ausländerin, sie bekommt Mindestsicherung". Jamali will nicht mehr am staatlichen Tropf hängen. Sie versucht, einen Job zu bekommen. Dutzende Bewerbungen hat sie bereits verschickt. "Aber mein Deutsch ist noch nicht gut genug." Die Zeit lässt sie trotz Absagen nicht ungenutzt. Hier ein Praktikum bei einer Versicherung, dort ein Schnuppertag in einer Apotheke. "Ich habe viel gekämpft. Ich will eine gute Zukunft in Österreich haben."
Den nächsten Schritt dafür hat sie bereits getan. Sie hat sich für das Studium transkulturelle Kommunikation an der Universität Wien beworben. "Ich warte noch auf meine Zulassung. Meine Zeugnisse müssen noch anerkannt werden." Drei Sprachen spricht sie bereits, eine Vierte wird im Studium dazukommen. "Österreich ist ein multikulturelles Land. Da ist es von Vorteil, wenn ich viele Sprachen spreche."
Vorbehalte im Job gespürt
Zahra* vermisst Afghanistan nicht. Sie war nicht mehr dort seit zwölf Jahren. "Ich mag nie wieder zurückgehen", sagt die junge Frau. Ihr Kopftuch hat sie nur leicht angelegt, der Haaransatz ist unbedeckt. Sie trägt ein Shirt mit Punkten. Ihren echten Namen will Zahra nicht in der Zeitung lesen. Sie arbeitet als Sozialpädagogin in Wien. Ihre Ausbildung hat sie in Österreich gemacht. In Afghanistan wäre er dieser Wunsch verwehrt geblieben. "Viele Frauen dürfen nicht arbeiten, nicht allein rausgehen, nicht einkaufen", erzählt sie.
Zahra kommt aus einer liberalen Familie. Sie hat in Afghanistan maturiert. Dort hat sie auch als Dolmetscherin für die deutsche Polizei gearbeitet. Auf der Straße wurde sie dafür beschimpft. Doch unterordnen wollte sie sich nie.
Wie es den jungen Afghanen auf den Straßen Wiens geht, weiß sie. Neben ihrem Job als Sozialpädagogin dolmetscht sie auch in Österreich für verschiedene Stellen. "Ich erlebe beides: Junge Afghaninnen und Afghanen, die hier einen Aufenthaltstitel bekommen, die sich integrieren und die Sprache lernen. Aber ich habe auch mit jenen zu tun, die Probleme haben." Sie kennt die Straßenkids aus ihrem Alltag. Aus ihrer Sicht sind die Herausforderungen groß. "Diese Jugendlichen haben zu wenig Betreuung und Integrationsangebote und viel Freizeit. Sie dürfen Dinge, die in Afghanistan verboten sind", sagt Zahra.
Freiheit sei gut, sagt sie, aber diese jungen Menschen seien es oft nicht gewohnt, wie man damit umgeht. Es fehlt an Betreuung. Zahra hat viele von ihnen gefragt, etwa wenn sie mit Dealern zu tun hatte. Manche antworteten ihr: "Wenn ich nicht deale, dann macht es ein anderer." Das Geld, das sie verdienen, sparen sie für Afghanistan auf. Denn sie wüssten, dass sie schlechte Bleibechancen haben. "Ich glaube, es braucht beides: Klare Regeln, aber auch mehr Bildungs- und Integrationsangebote. Viele dieser Jugendlichen sind ohne Eltern gekommen. Sie brauchen jemanden, der sich um sie kümmert."
Die Mitdreißigerin fühlt sich wohl in Österreich. Hier kann sie ein selbstbestimmtes Leben haben. "Ich bekomme keine Strafe, wenn ich etwas Falsches sage." Bestimmte Vorbehalte im Job hat Zahra sehr wohl gespürt. "Als Frau mit Kopftuch wurde ich nicht akzeptiert. Das wurde mir natürlich nicht so gesagt." Heute merkt sie keine Diskriminierung mehr. Nur manchmal spürt sie die Blicke. "Wenn man in ein Geschäft geht und Kopftuch trägt, wird man beobachtet. Das ist kein gutes Gefühl", sagt sie. Nicht alle afghanischen Frauen haben so viel Glück. "Ich kenne afghanische Familien, die unter dem Zwang der Männer leben – auch in Österreich", sagt Zahra. Sie hat Frauen unterstützt, die von ihren Männern vergewaltigt wurden. Frauen wird verboten, einzukaufen, die Mädchen müssen Kopftuch tragen. Die patriarchale Gesellschaft besteht hier oftmals fort.