Jerusalem/Tel Aviv. "Setz' Dich nach hinten, Schickse, schäm' Dich" pöbelt ein schwarz gekleideter Mann mit langem Bart eine junge Frau an. Die Soldatin Doron Matlon ist in einem öffentlichen Bus in Jerusalem nach einer Nachtschicht auf dem Heimweg. Was hat sie in den Augen einer Gruppe ultraorthodoxer Talmudschüler verbrochen? Sie hat sich im Bus in den vorderen Bereich gesetzt und muss sich dafür als "Hure" beschimpfen lassen.

  Berichte wie diese über die immer aggressiveren religiösen Fanatiker vom äußersten Rand der ultraorthodoxen Haredi-Juden beherrschen derzeit die israelischen Schlagzeilen. Auch viele der gemäßigteren Haredi-Juden sind entsetzt über die Taten von Splittergruppen wie den Sikarikim und fürchtet um ihren Ruf. Dass Frauen im öffentlichen Nahverkehr hinten zu sitzen hätten, im Supermarkt in speziellen Frauenschlangen an der Kasse stehen sollten oder bei Wahlen ihren Stimmzettel in Urnen nur für Frauen werfen sollten, finden auch viele Haredim meschugge. Zugleich aber lehnen viele strenggläubige Juden das zionistische Israel ab. Einen jüdischen Staat könne es erst geben, wenn der Messias gekommen sei, meinen sie.

  Auslöser der hitzigen Debatte um den wachsenden Einfluss religiöser Eiferer war ein Fernsehbericht über das Schulmädchen Naama Margolis. Die Achtjährige war in Beit Shemesh westlich von Jerusalem auf dem Weg zur Schule von religiösen Extremisten angespuckt und beleidigt worden. Die schon äußerlich für ein kleines Mädchen eher bedrohlich wirkenden ultraorthodoxen Männer mit ihren langen schwarzen Mänteln, einem schwarzen Hut und langen Rauschebärten fanden, dass das kleine Mädchen nicht züchtig gekleidet sei.

Diskriminierung von Frauen im öffentlichen Leben 
Kurz nach dem TV-Bericht demonstrierten mehrere tausend Menschen in Beit Shemesh gegen die Diskriminierung von Frauen im öffentlichen Leben und gegen die moralinsaueren Fanatiker, die Teile des Ortes schon fest im Griff haben. "Dies ist nicht Teheran" stand auf einem der Transparente in Anspielung auf die Theokratie der Mullahs. Vor allem die demografischen Aussichten machen vielen säkularen und gemäßigt-religiösen Israelis Angst.

  "Wenn heute schon mehr als 50 Prozent der Erstklässler Kinder aus ultraorthodoxen oder arabischen Familien sind, wer soll dann in zwölf Jahren in der Armee dienen?", schlug der Journalist Nadav Eidal am Donnerstag in der Zeitung "Maariv" Alarm. Unter dem Schlagwort "Taten statt Worte" forderte er das Ende der staatlichen Unterstützung für besonders kinderreiche Familien. Acht bis zehn Kinder pro ultraorthodoxer Familie sind keine Seltenheit. Ihre Kinder müssen ebenso wie die arabische Minderheit Israels nicht zum Militär.

Die  ultraorthodoxe Parallelwelt 
Das säkulare Israel sei an der Entwicklung nicht unschuldig, findet Eidal. Tatsächlich werden Steuergelder, die von der liberalen Mehrheit aufgebracht werden, für die ultraorthodoxe Parallelwelt ausgegeben. Nicht nur Kindergeld, sondern auch die Finanzierung eines religiösen Schulsystems, in dem die Schüler viel für den Glauben und weniger fürs Leben lernen, sowie Gelder für die zahlreichen Talmudschulen werden zunehmend kritisch gesehen. Würde es Ministerpräsident Benjamin Netanyahu jedoch wagen, die finanziellen Vergünstigungen anzutasten, würde er sofort seine Koalitionspartner vom rechten religiösen Rand verlieren.

  Die junge Soldatin morgens im Bus in Jerusalem aber leistete Widerstand. Sie blieb vorne sitzen, und der Busfahrer verschloss die Türen. An der nächsten Haltestelle wartete schon die Polizei und nahm den lautesten der Talmudschüler fest. Ihm wird unter anderem sexuelle Belästigung vorgeworfen. "Ich bin stolz auf das, was ich getan habe. Jede Frau sollte in einer solchen Situation so reagieren", sagte Matlon.