Jerusalem. "Du bist nicht nur Richter, Ankläger und Vollstrecker, sondern auch Zeuge." Mit diesen Worten wandte sich die israelische Journalistin Amira Hass kürzlich in einem offenen Brief an den "Soldaten-X". Gemeint war jener Soldat, der am 19. März einen 14-jährigen Palästinenser aus dem Gazastreifen erschossen hat, als dieser durch ein Loch im israelischen Sperrzaun kletterte. Gemeinsam mit zwei anderen Kindern wollte der palästinensische Bub dort die Löwenzahn-ähnlichen Disteln pflücken, mit deren Verkauf sich manche Familien in Gaza über Wasser halten. Doch dazu ist es nicht gekommen, der Soldat drückte ab, und der 14-jährige fiel zu Boden. Sein Name: Yousef al-Schamraweh. Doch ebenso gut könnte man ihn "Palästinenser-X" nennen: ein Einzelfall, der für sich spricht, aber gleichzeitig für einen besorgniserregenden Trend steht.

Allein im letzten Jahr töteten israelische Soldaten 27 Palästinenser, eineinhalb Mal so viele wie in den Jahren 2011 und 2012 gemeinsam. Laut Amnesty International waren mindestens 22 davon Zivilisten, darunter vier Kinder. Und dieses Jahr scheint dabei keine Ausnahme zu sein. "Es ist ein anhaltender Trend", sagt Saleh Hijazi, der für die Menschenrechtsorganisation die Vorfälle des letzten Jahres untersucht hat. Das Endprodukt seiner Nachforschungen ist ein 87 Seiten langer Bericht mit einem anklagenden Fazit: Israelische Soldaten sind "abdruckfreudig". Sie töten oft, wenn es eigentlich vermeidbar wäre.

Für Major Arye Shalicar, einen Sprecher der israelischen Armee, ist der Bericht von Amnesty hingegen "eine Frechheit". Amnesty habe sich ausschließlich auf die Opferposition konzentriert, die Gewaltbereitschaft der Palästinenser aber völlig ausgeklammert. Tatsächlich kam es erst am 22. März im Flüchtlingslager von Dschenin im Westjordanland zu einem Schusswechsel zwischen der Armee und palästinensischen Aktivisten, bei dem drei Palästinenser getötet wurden. Doch diese Art von bewaffnetem Konflikt ist selten geworden und der Bericht von Amnesty behandelt vorrangig Tötungen, deren Opfer nach internationalem Recht als "Nichtkombattanten" einzustufen sind. Dabei geht es vor allem um palästinensische Demonstranten, die in ihren Dörfern Proteste gegen die israelische Sperrmauer und gegen Siedlungen abhalten.

"Kultur der Gewalt"

Doch auch bei sogenannten "Verhaftungsoperationen" der Armee kommt es immer wieder zu Toten. Erst Ende Februar strömten rund 200 Soldaten mit Armeefahrzeugen in das Dorf Birzeit in der Nähe von Ramallah. Das erklärte Ziel war die Verhaftung eines Aktivisten der "Volksfront zur Befreiung Palästinas". Das Resultat: Nachdem sich der 22-Jährige in einem Haus verschanzt hatte, feuerten Soldaten Raketen aus einer Panzerfaust auf das Gebäude. Bulldozer rissen später die restlichen Wände ein. Die Armee erklärte, der Palästinenser habe "einen Terroranschlag geplant".

Am 10. März haben zwei weitere Vorfälle heftige Kritik geerntet: Innerhalb von 24 Stunden erschossen israelische Soldaten einen jordanischen Richter am israelisch-jordanischen Grenzübergang und einen 20-jährigen Studenten im Westjordanland. Letzterer wurde mit einem Kopfschuss getötet. Der junge Mann soll laut Aussagen der Armee Steine auf vorbeifahrende Fahrzeuge geworfen. Die palästinensische Politikerin und Intellektuelle Hanan Ashrawi warf Israel in Reaktion auf die Vorfälle sogar eine "Kultur der Gewalt" vor.

Für Tamar Feldman vom Verband für Zivilrechte in Israel (ACRI) sind die Ursachen für die leichtfertigen Tötungen tief im System der israelischen Besatzung verankert: "Soldaten werden ausgebildet, um den Feind zu bekämpfen. Sie sollten keine Strafverfolgung betreiben." Denn dort, wo eigentlich palästinensische Polizeikräfte agieren sollten, setze die Besatzungsmacht ihre Interessen mit eiserner Faust um.

"Die Soldaten handeln zudem in einem Klima weitreichender Strafffreiheit, weshalb die Abschreckungswirkung sehr gering ist, sagt Feldman. Lange Zeit sei es sogar dem Militär überlassen worden, ob ein Fall untersucht wird oder nicht. Doch seit einer Petition israelischer Menschenrechtsorganisationen im Jahr 2011 gelten neue Richtlinien: Jede Tötung eines Zivilisten durch die Armee muss untersucht werden, außer der Palästinenser "wird einer Straftat verdächtigt". Entsprechend wird nun von der Militärpolizei auch der Tod des jordanischen Richters und des am selben Tag erschossenen Studenten überprüft.

Dass derartige Ermittlungen nun häufiger stattfinden, sei durchaus positiv zu werten, sagt Feldman. Sie kritisiert jedoch auch, dass es dabei an Transparenz fehlt und die Untersuchungen nur sehr selten zu Anklagen führen. "Die Armee sollte ihr Bestmögliches tun, um Tote zu vermeiden. Es geht hier um das Recht auf Leben." Diese Forderung ist auch im Zusammenhang mit den laufenden Friedensgesprächen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu werten. Ein Sprecher von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nannte die Welle an Tötungen unlängst "eine gefährliche Provokation, die torpedieren wird, was noch vom Friedensprozess übrig ist".