"Wiener Zeitung": Die Vereinigten Staaten jagen Edward Snowden, als wäre er ein gefährlicher Terrorist wie Osama bin Laden. Dabei hat er nichts anderes getan, als ein gigantisches Abhörprogramm, bei dem Europäer systematisch bespitzelt werden, aufzudecken.
Salil Shetty: Edward Snowden hat Anspruch auf Asyl. Vor allem seit klar ist, dass seine Enthüllungen ans Licht gebracht haben, dass die US-Dienste gegen Grundrechte verstoßen haben. Man hat seinen Reisepass für ungültig erklärt und ihn damit in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, obwohl kein internationaler Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Amnesty ist der Meinung, dass aufgrund der politischen Sensitivität dieses Falls eine Auslieferung in die Vereinigten Staaten Edward Snowden gefährden würde. Den Fall von Wikileaks-Gründer Julian Assange sehen wir ähnlich. Da gibt es ebenfalls Zweifel an einem fairen Verfahren in den USA.

Wie steht Amnesty dazu, dass der US-Geheimdienst NSA systematisch in privaten Daten wühlt?
Mit diesem Massenüberwachungsprogramm wurde das Grundrecht auf Privatsphäre eingeschränkt. Das wirklich Beängstigende: Wie wir seit Guantánamo wissen, oder seit dem Bekanntwerden des außerordentlichen Überstellungsprogramms und nun eben des NSA-Datenüberwachungsprogramms, ist die Balance zwischen den Erfordernissen der nationalen Sicherheit und der Bewahrung der Grund- und Freiheitsrechte der Bürger in den USA völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Wann immer es in dieser Frage zu einer Güterabwägung gekommen ist, haben sich die USA für die Interessen der nationalen Sicherheit und gegen Bürgerrechte entschieden. Im Fall von Guantánamo ist wiederum völlig klar: Die Beschuldigten müssen mit einer Anklageschrift konfrontiert werden und können nicht jahrelang einfach in Haft bleiben. Die Inhaftierten haben das Recht auf ein Verfahren vor einem zivilen Gericht. Und wenn man ihre Unschuld erkennt, sind sie unverzüglich freizulassen.
Wer am Rande des Eisernen Vorhangs in Österreich aufgewachsen ist, für den waren die USA im Vergleich zur damaligen Sowjetunion der Leuchtturm der Freiheit und des Rechts. Und heute?
Ich hatte in meiner Jugend keine solchen Illusionen. Wenn man in Indien aufgewachsen ist, dann hat man ein anderes Bild von den USA als Westeuropäer. Die Vereinigten Staaten müssen etwa erklären, welche Regime sie über die Jahrzehnte in Lateinamerika unterstützt haben.
Sie waren auf der Vienna+20-Konferenz zu Gast. Vor zwanzig Jahren fand in Wien eine richtungsweisende Menschenrechtskonferenz statt, 20 Jahre danach wurde das Erreichte reflektiert.
Es schadet nicht, wenn man zurückblickt, denn dann lässt sich feststellen, dass vieles erreicht worden ist. Wenn man sich etwa an die vielen Kampagnen von Amnesty International zurückerinnert: Eine unserer Wichtigsten war unser Kampf gegen die Todesstrafe. Und da waren wir sehr erfolgreich. Heute gibt es nur mehr 20 oder 30 Staaten, die die Todesstrafe anwenden.
Die Kommunikationsrevolution hat Menschenrechtsaktivisten enorm geholfen. Denn die Bürger haben mehr Zugang zu Information, zu Mobiltelefonen oder zum Internet. Manchmal denke ich, dass Amnesty die erste analoge Facebook-Gruppe war, wo Menschen sich in kleinen Lokalen getroffen haben, um gemeinsam Postkarten und Briefe an diverse Machthaber zu schreiben und sich für das Schicksal von Gefangenen und politisch Verfolgten einzusetzen. Twitter und Facebook machen es heute viel leichter, sich zu organisieren und gemeinsam etwas zu erreichen.
Das verleitet natürlich Regimes dazu, das Internet und die Neuen Medien einzuschränken und zu überwachen. In der Vergangenheit haben repressive Regimes Fernsehkanäle und Zeitungen geschlossen. Heute versuchen sie im Bedarfsfall das Gleiche mit dem Internet.
Die globalen Protestbewegungen zeigen, dass die sozialen Medien eine starke emanzipatorische Wirkung haben.
Sicherlich. Denken wir etwa an den Arabischen Frühling: In Tunesien oder in Ägypten war es undenkbar, zu protestieren. Aber auf einmal haben die Menschen es getan. Auch in China oder in Russland haben die Menschen weniger Scheu, zu protestieren. Sie kämpfen gegen Korruption oder gegen Enteignung. Das ist vielleicht nicht immer so sichtbar, aber das heißt nicht, dass es nicht geschieht. Die Türkei, Brasilien, Indien, Mexiko, Indonesien oder Nigeria sind Staaten, die von sich behaupten, Demokratien zu sein. Die Regierungen dieser Länder behaupten auch, sie würden internationale Menschenrechtsstandards unterstützen. Aber manche Politiker in diesen Ländern glauben, nur weil sie gewählte politische Vertreter sind, bräuchten sie keine Rechenschaft über ihre politische Arbeit abzulegen.
Gibt es gemeinsame Muster, die die Proteste in der Türkei, in Ägypten oder in Brasilien eint?
Ich denke, dass die Bürger heute höhere Erwartungen an ihre Politiker haben. Leider gibt es auch gemeinsame Muster der Repression, wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff hat nach anfänglicher Polizeigewalt auf Dialog gesetzt. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan war da weniger einsichtig. Und was Ägypten betrifft: Bei meinem letzten Besuch habe ich mit dem ägyptischen Generalstabschef Abd al-Fattah as-Sisi auch über den Umgang mit Demonstrantinnen gesprochen. Man hat ja Frauen, die am Tahrir-Platz demonstriert haben, eingesperrt und sie dann vor ihrer Freilassung Jungfräulichkeitstests unterzogen. As-Sisi meinte, das sei aus Sorge geschehen, um nachweisen zu können, dass junge Frauen in der Haft nicht vergewaltigt wurden. Das sei der Hintergrund dieser Tests gewesen. Sage ich zu ihm: "Ich habe auch eine Frau namens Samira getroffen. Mit ihr habt ihr diesen Jungfräulichkeitstest auch gemacht. Sie hat diese Behandlung als Erniedrigung und als Zumutung empfunden." Es kommen immer wieder Argumente, die sich auf einen kulturellen Relativismus verlassen, à la "das ist unsere Kultur, das müsst ihr verstehen". Meist wird dieses Argument von Machthabern missbraucht, und zwar nicht, um kulturelle Eigenheiten zu schützen, sondern die eigene Macht.