Berlin/Washington. Beinahe täglich gibt es neue Enthüllungen, Anfragen und Diskussionen um die Spionage-Aktivitäten der NSA in Europa. Wer mit wem, warum gegen wen, wie mit wem und wer eigentlich nicht? Und wenn nicht, warum nicht? Es scheint als spionierten ohnehin Alle. Aber erst das Öffentlichmachen führt zu einer Diskussion, die fast zwangsläufig auch in politischer Empörung münden muss.
Nach neuen Enthüllungen über mögliche Spähaktionen des US-Geheimdienstes NSA macht sich bei deutschen Politikern immer mehr Misstrauen breit. Der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Patrick Sensburg (CDU), nimmt an, dass neben der National Security Agency (NSA) auch Dienste anderer Länder die deutsche Regierung ausspähen.
Wer spioniert die Deutschen aus?
Er gehe davon aus, dass die NSA-Ausspähung "direkte Spionage war, bis 2012 zumindest", sagte Sensburg am Donnerstag im "Morgenmagazin" der ARD. Das heißt, dass seiner Ansicht nach der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) nicht beteiligt war. "Wir müssen prüfen, ob dies immer noch stattfindet, und wir müssen davon ausgehen, dass andere Länder Vergleichbares bei uns machen", sagte Sensburg.
Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere (CDU) sagte ebenfalls in der ARD, er wolle die neuen Informationen überprüfen. "Wir sind misstrauischer geworden. Über Jahrzehnte waren auch westliche Geheimdienste nicht Gegenstand der Spionageabwehr." Im Lichte der Veröffentlichungen des US-Geheimdienstenthüllers Edward Snowden und von Wikileaks habe sich das geändert. "Mit Beginn dieser Legislaturperiode werden auch westliche Nachrichtendienste daraufhin überprüft, ob sie hier Spionage betreiben", sagte de Maiziere.
Warum eigentlich nur Merkel?
Die NSA soll nach Informationen der Enthüllungsplattform Wikileaks nicht nur - wie schon länger bekannt - die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausgespäht haben, sondern weite Teile der Regierung in Berlin. Aus den Unterlagen gehe hervor, dass sich die NSA vor allem für die deutsche Währungs-und Handelspolitik interessiert habe, berichteten "Süddeutsche Zeitung" (Donnerstag-Ausgabe), NDR und WDR. Zu den Spionagezielen gehörten demnach nicht nur das Wirtschafts-, sondern auch das Finanz- sowie das Landwirtschaftsministerium.
Der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel äußerte sich gelassen. "Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu", sagte der SPD-Chef im ARD-"Morgenmagazin". "Wir machen nichts in Ministerien per Telefon, was man abhören müsste." Viel brisanter sei die Frage, ob die NSA auch die deutsche Wirtschaft ausgespäht habe. "Mein Ministerium ist mit zuständig dafür, Unternehmen zu schützen vor Wirtschaftsspionage, und das finde ich das problematischere Thema."
In den NSA-Unterlagen findet sich den Berichten zufolge eine Überwachungsliste mit 69 Telefonnummern. Dabei soll es sich um in der Vergangenheit überwachte Anschlüsse wie auch um aktuelle Anschlüsse handeln. Die Überwachung reiche bis in die 90er Jahre zurück.
Die Wikileaks-Dokumente enthielten auch ein Abhörprotokoll eines Telefonats, in dem sich Merkel am 11. Oktober 2011 zu den damaligen Entwicklungen in Griechenland äußerte. "Die deutsche Kanzlerin Merkel erklärte, sie sei ratlos", heißt es den Berichten zufolge in dem Protokoll. Merkel sagte demnach, sie befürchte, dass selbst ein zusätzlicher Schuldenschnitt die Probleme nicht lösen könne, da Athen nicht in der Lage sei, mit verbleibenden Schulden zurechtzukommen. Ein Regierungssprecher sagte laut "Süddeutscher Zeitung": "Ohne nähere Kenntnis des zugrundeliegenden Sachverhalts ist der Bundesregierung eine Bewertung derzeit nicht möglich."
Deutscher Jurist soll für Ausschuss US-Dokumente sichten
Gegen die heftige Kritik der Opposition hat der NSA-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag den 65-jährigen Juristen Kurt Graulich als sogenannte Vertrauensperson nominiert, die Einblick in streng geheime US-Spionageunterlagen nehmen soll. Das teilte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses des Bundestags zur NSA-Spähaffäre, Patrick Sensburg (CDU), am Donnerstag in Berlin mit.
Die deutsche Regierung muss den ehemaligen Richter am Bundesverwaltungsgericht noch offiziell für seine neue Aufgabe ernennen. Der Vertrauensbeauftragte soll im deutschen Kanzleramt Einblick in die streng geheime Liste der US-Spionageziele nehmen und prüfen, ob bei den Spähaktionen gegen Absprachen verstoßen wurde. Nach Vorstellung der Regierung soll er dann dem Untersuchungsausschuss des Bundestags Bericht erstatten. Die Oppositionsabgeordneten lehnen dies ab, sie wollen die Akten selbst sehen.
"Damit wird ein Verfahren der Vertuschung verlängert", kritisierte die Obfrau der Linken im NSA-Ausschuss, Martina Renner. "Wir wehren uns gegen dieses Konstrukt", sagte auch der Grün-Abgeordnete Konstantin von Notz. Es sei keine Aufklärung dadurch zu erwarten. Linke und Grüne kündigten Klage beim deutschen Verfassungsgericht in Karlsruhe an.
Mit dem Verfahren will die deutsche Regierung den USA entgegenkommen, die nicht dem gesamten Ausschuss den Blick in die Geheimakten zubilligen wollen. Einem Medienbericht zufolge lehnt die US-Regierung aber auch die Einsetzung eines solchen Sonderermittlers ab, weil sie auch hier einen Verrat von Geheimnissen befürchtet.
Die sogenannte Selektorenliste liegt derzeit noch unter Verschluss im deutschen Kanzleramt. Sie verzeichnet Ziele, die der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) im Auftrag des US-Dienstes NSA (National Security Agency) ausspähte. Die Liste ist für den Untersuchungsausschuss von Interesse, weil vermutet wird, dass die NSA den BND möglicherweise absprachewidrig zur Ausspähung europäischer Behörden und Unternehmen einspannte.
Ungeachtet der Einsetzung Graulichs will sich der Ausschuss aber nach den Worten Sensburgs einen Einblick in die streng geheime Selektorenliste vorbehalten. "Wenn die Vertrauensperson uns Erkenntnisse bringt, die ausreichend sind, ist das ok", sagte Sensburg. "Ansonsten werden wir darauf bestehen, die Listen einsehen zu können."
Graulich selbst schätzt seine Möglichkeiten, Licht in das Dunkel um die sogenannte Selektorenliste mit Spionagezielen zu bringen, offenbar als gering ein. "Es besteht das Risiko, 40.000 Selektoren zu finden, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang stehen", sagte er am Mittwoch gegenüber "Spiegel Online". "Die Prüfung könnte schnell an einen Punkt kommen, an dem wir mehr Daten, mehr Kontextwissen brauchen. Das geht wahrscheinlich nicht ohne die Amerikaner." Er glaube nicht, dass mit der Einsicht in die Selektorenliste die Aufklärung schon erledigt sein werde, fügte der Jurist hinzu.