Das Amt des Premierministers bringt es unter anderem mit sich, das es Anrede und Berufsbezeichnung normalerweise in sich vereint, vielleicht noch garniert mit einem "Sehr geehrter".
Nicht so beim äthiopischen Premierminister Abiy Ahmed. Abiy wird vom Volk schlicht liebevoll und vertraut "Doktor Abiy" genannt. Denn Abiy, der vor zweieinhalb Jahren an die Spitze des äthiopischen Staates gekommen ist, unterscheidet sich grundlegend von seinen Vorgängern: Er wird vom Volk tatsächlich geliebt. Und er hat nicht nur Abschlüsse in technischen Wissenschaften und Führungsaufgaben. Sondern er hält auch einen Ph.D., einen Doktortitel in Friedenswissenschaften. Im Jahr 2017 promovierte Abiy mit seiner Arbeit über "Soziales Kapital und seine Rolle in der traditionellen Konfliktlösung in Äthiopien – am Beispiel von interreligiösen Konflikten in dem Bundesstaat Jimma". Im selben Jahr, August 2017, publizierte Abiy noch einen Artikel über De-Eskalationsstrategien am Horn von Afrika auf der Wissenschaftsplattform "Africa Portal".
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Nur ein paar Monate später, im Frühling 2018, wurde Abiy äthiopischer Premierminister. Und überraschte viele. Er ließ in dem Staat, in dem alles eingefroren schien, keinen Stein auf dem anderen. Repressive Gesetze wurden zurückgenommen, Äthiopier durften auf einmal ihre politische Meinung laut äußern, und der seit 20 Jahren andauernde Konflikt mit dem Nachbarland Eritrea wurde, für viele nicht weniger überraschend, auf einmal beigelegt.
Die tatsächliche Umsetzung von Abiys Friedensstudiums in die Praxis bereitete den Weg dafür, dass der Doktor vom Komitee in Oslo nun den prestigeträchtigen Friedensnobelpreis 2019 erhalten hat.
Tatsächlich gerät das Nobelpreis-Komitee fast außer Atem, wenn es die Leistungen von Abyis erst eineinhalbjährigen Amtszeit aufzählt. Das klingt unter anderem so: "In seinen ersten 100 Tagen als Premierminister hat er das Notstandsgesetz aufgehoben, tausende politischen Gefangenen freigelassen, die Zensur der Medien beendet, oppositionelle Gruppen legalisiert, korrupte Führungsfiguren entlassen und hat den Anteil von Frauen in der politischen Teilhabe signifikant erhöht."
Stabilität ohne Repression
Auch die Friedensgespräche mit dem lange verfeindeten Nachbarn Eritrea begannen noch in den ersten 100 Tagen. Aber damit nicht genug: "Neben dem Friedensprozess mit Eritrea hat Premierminister Abiy sich auch in anderen Friedens- und Versöhnungsprozessen in Ost- und Nordostafrika engagiert", streut ihm das Komitee Rosen. Abiy hat aktiv dazu beigetragen, dass sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Eritrea und Dschibuti nach jahrelanger Feindschaft normalisiert haben. Abiy fungiert ebenso als Mediator zwischen Kenia und Somalia. Auch die Tatsache, dass sich im Sudan das Militärregime und die Opposition auf eine neue Verfassung geeinigt haben, schreibt das Nobelpreiskomitee den Vermittlungsfähigkeiten von Abiy zu.
Abiy weiß, dass stabile Verhältnisse am Horn von Afrika sich auch positiv auf die internen Probleme Äthiopiens auswirken. Rund eine Million Flüchtlinge und Asylsuchende sind etwa aus Somalia nach Äthiopien gekommen. Über Somalia versucht auch der Islamische Staat immer, einen Fuß in die Tür Äthiopiens zu bekommen.
Dazu kommen in Äthiopien bis zu drei Millionen Binnenflüchtlinge, die entweder vor Hungersnöten flüchten oder vor ethnischen Konflikten wie etwa im südlichen Teil des Landes.
Ethnische Spannungen gehören im Vielvölkerstaat Äthiopien – dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas nach Nigeria – zur Tagesordnung.
Ethnische Spannungen und deren Aussöhnung sind aber auch Teil der Aufstiegsbiografie von Abiy Ahmed. Seine Mutter gehörte der – oft an den Hebeln der Macht sitzenden – Ethnie der Amahara an, sein Vater gehörte zum Volk der Oromo, die zwar die größte Gruppe innerhalb Äthiopiens bilden, aber von der regierenden Schicht unterdrückt wurden.
Daran und an dem Landraub in der Oromo-Region entzündeten sich die blutigen Oromo-Proteste der Jahre 2014 bis 2017. Abiy kämpfte als der für Wohnbau verantwortliche Politiker der Region entschieden gegen die Landumwidmung rund um die Hauptstadt Addis Abeba durch die Regierung unter dem Deckmantel der "wirtschaftlichen Entwicklung" – damals waren vor allem Oromo-Gebiete betroffen. Abiy erlangte so überregionale Berühmtheit.
Die Proteste führten schließlich auch zum Rücktritt des damaligen Premierministers Hailemariam Desalegn im Februar 2018. Er machte so den Weg frei für Abiy, der ihm im April 2018 als Premierminister nachfolgte und schon im März den Vorsitz des Ein-Parteien-Konstrukts EPRDF übernahm. Die EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes) speist sich aus vier – vor allem geografischen – Fraktionen und regiert Äthiopien seit Ende des Derg-Regimes 1987. Doch während die EPRDF wie so viele anfangs Demokratie versprach und auch international geachtete Führungsfiguren hervorbrachte, wandelte sich die unwidersprochene Politik immer mehr in ein repressives System. Oppositionelle mussten flüchten oder wurden eingesperrt. Kundgebungen oder eigene Meinungen waren nicht erlaubt.
All das änderte sich unter Abiy. Der Premierminister widerstand sogar der Versuchung, nach einem Putschversuch im Juni 2019, bei dem drei Vertraute Abiys umgebracht worden waren, sämtliche Oppositionelle ins Gefängnis zu werfen und zu alten repressiven Mustern zurückzukehren.
"Rom nicht an einem Tag erbaut"
Natürlich besteht das äthiopische Parlament – bis auf ein paar Feigenblätter – immer noch nur aus einer Partei, nämlich der EPRDF, der Partei Abiys. Aus Sicht des Nobelpreiskomitees relativiert sich auch der von – westlichen – Beobachtern vorgebrachte Vorwurf, dass Äthiopien auch unter Abiy noch keine westliche Demokratie geworden ist. "Uns ist bewusst, dass es viele geben wird, die sagen, der Nobelpreis für Abiy Ahmed komme zu früh", sagt die Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, Berit Reiss-Andersen. Aber man glaube Abiy, der für kommendes Jahr Wahlen versprochen habe. "Auch Rom wurde nicht an nur einem Tag erbaut", erinnert Reiss-Andersen.