Es war, das kann man durchaus behaupten, das Coolste, was einem Filmjournalisten überhaupt passieren kann: 2011 beim Filmfestival in Cannes. Schauplatz: Hotel Martinez, in der Lobby mit angrenzender Bar. Ein kleiner Tisch, drumherum zwei ausgefallene, schwarz bezogene Art-Deco-Sitzmöbel.

Absoluter Kult: Uma Thurman in "Pulp Fiction", 1994. - © imago images / United Archives
Absoluter Kult: Uma Thurman in "Pulp Fiction", 1994. - © imago images / United Archives

Auf dem einen der Interviewpartner, ein britischer Regisseur namens Edgar Wright, der mit der Komödie "Hot Fuzz" 2007 einen großen Erfolg gelandet hatte, weil der so herrlich slapstickhaft und trashig und vor allem britisch war. Das Interview läuft gut, Wright hat viel zu sagen, die Unterhaltung ist spannend. Dann unterbricht Wright plötzlich mitten im Satz, weil er am anderen Ende der Lobby jemanden erspäht hat. "Hey", springt er auf, "come over!" Sein Strahlen im Gesicht wird größer, als er merkt, dass der von ihm Angerufene seinem Wunsch Folge leistet.

Der Filmjournalist mag diese Form der Interviewunterbrechungen eigentlich gar nicht. Sie bringt die Interviewten meistens aus dem Konzept, der Gesprächsfluss wird gestört. Doch dann wird plötzlich ersichtlich, wen Wright hier zum Tisch gerufen hat. "Hey guys, what’s up?", sagt der große Mann mit der dunklen Sonnenbrille. Es ist Quentin Tarantino.
Wright sagt, er wäre mitten im Interview, aber man könne sich später an der Bar treffen. Tarantino sagt nur: "Mind, if I join you now?" und setzt sich dazu.

Größter Kultstatus seit Hitchcock

Wenn einem der Regisseur mit dem vermutlich größten Kultstatus in Hollywood seit Alfred Hitchcock (dieser vermutlich aus ganz anderen Gründen) plötzlich vor die Nase läuft, gemeinsam mit seinem Buddy Edgar und dem Filmjournalisten an der Bar des Martinez abhängt und über Filme redet, dann ist das ein einmaliges Glück. Tarantino blieb bis zum Ende des Interviews und sprach dann noch weitere 40 Minuten begeistert über Gott und die (Film-)Welt.

Diese Begegnung, die dem Autor tatsächlich passiert ist, umreißt sehr gut den Kern dieses Ausnahme-Talents: Es gibt vielleicht noch zwei, drei andere Regisseure, die dermaßen leidenschaftlich von ihrem Beruf und ihrer großen Liebe, dem Kino, berichten. Ein Enthusiast auf allen Ebenen, das ist Tarantino, ein Filmemacher, der Filme macht, weil er Filme liebt. Einer, der schamlos von anderen Filmen kopiert, von ihnen die besten Ideen stiehlt, um daraus wieder neue, kultige, weltweit verehrte Szenen zu entwickeln, die seine Filme so unverwechselbar machen.

Wenn es im Hollywoodkino der Gegenwart einen US-Amerikaner gibt, der eine unverwechselbare Handschrift vorweisen kann, dann ist es er, Tarantino.

Tarantino hat das Talent, alte Trash-Filme in seinen Arbeiten zu persiflieren und in ihrer Dauer so auszuwälzen, dass es in keine Filmdramaturgievorlesung passt. Zugleich gibt er seinen Stoffen, die so übertrieben zu sein scheinen (die Amerikaner nennen das "over the top"), eine bodenständige Ernsthaftigkeit, eine Unzweifelhaftigkeit, die ihresgleichen sucht in der Filmgeschichte.

Niemand vor ihm hat mit einem solchen nach außen getragenen Selbstbewusstsein seine eigenen Filme vermarktet. Aber es gibt auch niemanden, der seine eigenen Filme so gut kennt wie Tarantino. Was damit gemeint ist: Die Versatzstücke aus dem Trashkino der 60er und 70er Jahre, mit denen Tarantino sehr oft operiert, sind allesamt sorgfältigst gewählt, nichts ist hier Zufall, denn Tarantino hat nicht bloß eine Persiflage vor, sondern will das Genre des Trash weiterdrehen, es um eine ernsthafte Dimension erweitern und keinesfalls ein Deja-vu-Erlebnis beim Zuschauer hervorrufen.

Arbeitet am liebsten mit Robert Rodriguez zusammen

2020 ist Quentin Tarantino einmal mehr einer der Favoriten bei der Oscarverleihung am 10. Februar. Sein Film "Once Upon A Time In Hollywood", schon vom Titel her eine Referenz an Klassiker des populären Kinos, ist insgesamt zehnfach nominiert – darunter auch als bester Film, für die beste Regie und das beste Drehbuch. Alle drei Oscars, so sie ihm zugesprochen werden, würde Tarantino mit nach Hause nehmen.

Was hat der 56-jährige Filmfreak, der von sich selbst sagt, am liebsten mit Regie-Kollegen Robert Rodriguez (beide drehten zusammen "From Dusk Till Dawn" nach Tarantinos Drehbuch) alte 70er-Jahre-Western im Heimkino anzusehen, nicht alles schon für Preise gewonnen für seine Trash-Restlverwertungsfilme, die voller liebevoller Details stecken? Zwei Oscars, drei Golden Globes, die Goldene Palme von Cannes, und das sind nur die wichtigsten Preise.

Wobei: Die Oscars bekam Tarantino, der leidenschaftliche Inszenierer, für "Pulp Fiction" (1994) und "Django Unchained" (2012) "nur" für das beste Drehbuch, noch nie für die beste Regie. Dieser Preis fehlt ihm noch, und heuer hat er die Chance dazu, obwohl hier alle Zeichen auf einen Sieg des Weltkriegsepos "1917" und seines Regisseurs Sam Mendes deuten. Mendes holte schon den Golden Globe und ist insgesamt ebenfalls 10-fach nominiert. Auch Mendes hat drei Oscar-Chancen, in den gleichen Kategorien wie Tarantino.

Was macht es also aus, das Kino des Quentin Tarantino? Woher bezieht es seinen Kultstatus, was sind die Inspirationen des Künstlers? Das zeigt eine kleine Tour d’horizon durch Tarantinos inzwischen neun Filme umfassendes Werk als Regisseur. Dass er schon davor als Drehbuchautor gute Karten hatte, bestätigt die Vermutung, dass in diesem Mann zuallererst ein ausgezeichneter Dramatiker steckt, der die Kniffe beherrscht – und sie dann bricht.

Denn Tarantinos Filme passen in keine gängigen Hollywood-Schemen, dafür sind sie viel zu ausufernd. Die Faustregel für Hollywoods Highspeed-Dramaturgie, möglichst spät in eine Szene einzusteigen und sie möglichst früh zu verlassen, gilt für Tarantino nicht und niemals. Wer erinnert sich nicht gerne an das ewige Gelaber von John Travolta und Samuel L. Jackson in "Pulp Fiction", bevor dann endlich was passierte. Oder das Monologisieren des Dr. King Schultz (Christoph Waltz) in "Django Unchained"? Oder der gemächliche Ton mit mehrfachem Perspektivenwechsel in Tarantinos Heist-Movie "Jackie Brown" (1997), ein Film, den nichts aus der Ruhe bringt. Es ist Tarantinos erklärter Lieblingsfilm aus der eigenen Filmografie.

Tempo als Maß aller Dinge

Gerade diese Zeitdehnung, dieses Ausnützen des dramaturgiefreien Raumes, hat Tarantino seinen Kultstatus eingebracht. 1992, als er mit dem Heist-Movie "Reservoir Dogs" begann, Regie zu führen, da war das Tempo im Fernsehen bereits das Maß aller Dinge. Wer nach zwei Minuten nicht wusste, worum es ging, schaltete um.

Von wegen jeder Film müsste aussehen wie ein MTV-Musikvideo: Tarantino nahm sich die Zeit, und in dem nun zehnfach nominierten "Once Upon A Time In Hollywood" fährt man die ersten zwei Filmstunden lang relativ ratlos durch das L.A. der späten 60er Jahre, sieht Brad Pitt und Leonardo DiCaprio beim Schönsein zu, ehe das Trash-Finale in 45 Minuten die Geschichte der Manson-Morde völlig umschreibt. Er ist insofern auch ein fordernder Autorenfilmer, dieser Tarantino, einer, der seine eigenen Regeln schreibt.

Seine Drehbücher zu "True Romance" und "Natural Born Killers" hatten ebenso Kultstatus erreicht wie "From Dusk Till Dawn", seiner Drehbucharbeit, die sein Buddy Rodriguez inszenierte. Da sah man Harvey Keitel, George Clooney, Salma Hayek und Juliette Lewis in einer schrägen Groteske voller Trash und Vampir-Brimborium, das schon viel von dem vorwegnahm, was Tarantino später als Regisseur umzusetzen versuchte: maximales Chaos, entschleunigt, gut dialoglastig, anders. Anders als aller Trash davor. Irgendwie Luxus-Trash.

Mit "Pulp Fiction" hat Tarantino die Welt überrascht, "Jackie Brown" spielte in dieser Machart weiter, allerdings viel mehr "sophisticated". Das Rache-Epos "Kill Bill" (2003/2004), Teil eins und zwei, erweiterte Tarantinos Trash-Manie in Richtung Martial-Arts; er widmete die Filme Charles Bronson, einem von seinen Lieblings-Action- und Westernhelden.

Tarantinos "Death Proof" (2007), eine Hommage an B-Movies und das Exploitationkino der 70er Jahre, bestach durch knallharte Frauenfiguren und war Teil des Doublefeatures "Grindhouse", dessen Gegenstück Robert Rodriguez‘ "Planet Terror" war. "Death Proof" gehört unverdient zu den eher weniger beachteten Tarantino-Filmen, während sein nächster Film "Inglourious Basterds" (2009) als sein größter Erfolg nach "Pulp Fiction" in die Filmgeschichte einging: Nicht nur, dass der Regisseur darin die Geschichte umschrieb und Hitler in einem Kino verbrennen ließ, gebar er mit der Figur von SS-Standartenführer Hans Landa den wohl bösartigsten Nazi der Filmgeschichte.

Christoph Waltz erhielt dafür den Oscar – und seinen zweiten für "Django Unchained", in dem er von der Anlage her im Prinzip die gleiche Figur darstellte. "The Hateful Eight" (2015), ein Western, den Tarantino in sechs Kapiteln erzählt, existiert auch als Miniserie. Es ist der Tarantino-Film, der am wenigsten überzeugte. Mit "Once Upon A Time In Hollywood" (2019) hat Tarantino zu alter Form zurückgefunden und sich auch thematisch ein wenig vom Western entfernt. Ganz ohne geht es aber nicht: Leonardo DiCaprio spielt im Film den Darsteller eines Westernhelden in einer billigen TV-Serie der 60er Jahre.

Jeder Film ein Meilenstein, wie bei Kubrick

Neun Filme hat er inszeniert, ein zehnter geht noch, sagt Tarantino immer. Dann muss Schluss sein. Mit 60 will der Regisseur keiner mehr sein, nur mehr schreiben. Jeder Film bis dahin war jahrelang vorbereitet, keiner ist
gefloppt, alle sind Kultfilme geworden, so wie sich Tarantino das gewünscht hat.

Es ist ein bisschen wie mit der Filmografie von Stanley Kubrick, der in seinem Leben insgesamt nur 13 Filme drehte, und jeder von ihnen war ein Meilenstein – von "2001" über "Barry Lyndon" und "Spartacus" bis hin zu "Shining" und "Eyes Wide Shut". Der große Unterschied zu Tarantino: Kubrick hat sein Genre mit jedem Film gewechselt, es gibt keine Dopplungen in diesem Kino. Tarantino hingegen erzählt am Ende immer dieselbe Geschichte, blutgetränkt in Trash- und Splatter-Wurzeln.

"Meine Maxime ist es immer gewesen, am Ende meiner Laufbahn auf die eigene Filmografie stolz sein zu können", erzählte Tarantino damals an der Bar im Hotel Martinez. "Das ist mein absolutes Ziel. Ich will starke und erinnerungswürdige Filme hinterlassen. Ich will nicht, dass man meine Filme in Schaffensphasen einteilen kann. Man sieht es ja rundherum: Die meisten Regisseure werden mit dem Alter nicht unbedingt besser.

Ich bin es meinen Fans schuldig, gute Arbeit zu machen. Ein Beispiel: Wenn ein 15-Jähriger, der vielleicht heute noch nicht auf der Welt ist, in 20, 30 Jahren nach meinem Tod zufällig über einen meiner Filme stolpert und ihn lässig findet, und wenn dieser Teenager dann noch mehr von mir sehen möchte, aber nicht weiß, wozu er zuerst greifen soll, dann müssen eben alle Filme gut sein, nicht nur einige", so Tarantino.

Es ist die Kompromisslosigkeit, die hier aus ihm spricht, und die vermutlich der Grund für seinen Erfolg ist: "Ich will diesem Teenager keinen Film zeigen, den ich als Auftragsarbeit gemacht habe, und keinen, mit dem ich mir meinen Swimmingpool finanziert habe. Und auch keinen Film, den ich mit Kompromissen gedreht habe, weil ich diesen einen Schauspieler brauchte, um viel Geld am Startwochenende einzuspielen, weil meine letzten Filme nicht gut liefen. Verstehen Sie, warum ich so erpicht darauf bin, sehr sorgfältig an dieser Filmografie zu arbeiten?"

Die Message ist angekommen, was Tarantino antreibt, ist entschlüsselt. Er will mit seinen Filmen in seinem Publikum dasselbe Gefühl auslösen, das er selbst kennenlernte, als er als Teenager in einer Videothek arbeitete und dort zwischen all den Filmklassikern einen Wow-Effekt nach dem anderen gehabt haben muss.