Der Druck auf die türkis-grüne Bundesregierung zur Umsetzung der Pflegereform steigt. "Der Pflegeturbo ist einzuschalten", forderte der Präsident des Österreichischen Hilfswerks, EU-Abgeordneter Othmar Karas. Es dürfe kein "auf die lange Bank schieben" mehr geben, warnte er bei einer Pressekonferenz am Dienstag. Die Pflegereform hat sich wegen der Corona-Pandemie verzögert, für den Herbst hat die Koalition Maßnahmen in Aussicht gestellt, Details sind aber ungeklärt. Für das Hilfswerk stehen zwei Punkte im Vordergrund: eine wirksame Personaloffensive und die seit langem verlangte Stärkung und Unterstützung der Pflege zu Hause.
Die erhöhten finanziellen Belastungen des öffentlichen Finanzen durch die Corona-Pandemie sind für das Hilfswerk kein Grund, eine Pflegereform noch weiter aufzuschieben. Wer glaube, dass sich Österreich eine Pflegereform wegen der Coronakrise nicht leisten solle oder leisten könne, "sitzt einem doppelten Irrtum auf", warnte Karas. Denn einerseits sei diese für die Versorgungssicherheit pflegebedürftiger Menschen notwendig, andererseits seien Investitionen in eine Pflegereform sogar eine "Motor" für den Wiederaufbau nach der Krise.
Das Hilfswerk stützt sich dabei auf eine Untersuchung des Instituts für Höhere Studien (IHS), wonach sich Investitionen in die Pflege lohnen. Monika Riedel, Pflegeexperte beim IHS, rechnete vor, dass Ausgaben für die Pflege ein Vielfaches an Wertschöpfung bewirken. So seien 2019 von den Ländern 459 Millionen Euro für mobile Pflege aufgewendet worden, das habe 1,14 Milliarden Euro an Wertschöpfung zur Folge gehabt. Außerdem habe es 2019 zugleich einen direkten Rückfluss durch Steuer- und Sozialversicherungsabgaben von etwa 225 Millionen Euro gegeben.
Entscheidend bei der Reform ist die Ausstattung mit mehr Personal. "Wir sind überzeugt, dass das die Gretchenfrage der Reform ist", betonte die Geschäftsführerin des Hilfwerks, Elisabeth Anselm. Eine Personaloffensive hänge "auf Gedeih und Verderb" damit zusammen. Bis 2030 fehlen laut einer Studie bis zu 100.000 Vollzeit- und Teilzeitkräfte. "Wir haben schon jetzt Personalnöte", beklagte sie.
Mehr Mittel für die Pflege daheim
Für eine Personaloffensive sei ein Masterplan notwendig: Gesundheits- und Sozialberufe müssten Teil des Regelschulwesens werden; nach dem Ende der Pflichtschule müsse es einen "Lückenschluss" geben, bis die Pflegeausbildung ab 17 Jahren möglich ist; die Ausbildung selbst müsse kostenfrei sein; es müsse bezahlte Praktika geben; vor allem müssten auch unplausible Einkommensdifferenzen für Pflegeberufe im stationären Bereich und in der mobilen Pflege "dringend beseitigt" werden, zählte Anselm auf.
Sorgen bereitet ihr aber auch die Entwicklung, dass trotz aller politischen Bekenntnisse zum Ausbau der Pflege daheim vor allem auch durch die Abschaffung des Pflegeregresses in Heimen 2018 mehr Investitionen in Heime statt in die mobile Pflege fließen. "Wir müssen eine Art Schubumkehr einleiten", forderte die Geschäftsführerin des Hilfswerks.
Volkshilfe verlangt mehr Geld von Blümel
Vor dem interationalen Tag der Pflege drängte Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger auf die Bereitstellung der entsprechenden Mittel für Pflege und Personal: "Wenn wir nicht wollen, dass die Systemerhalterinnen nur beklatscht werden", dann müsse jetzt Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) die notwendigen budgetären Mittel für die Bundesländer bereitstellen. Diese erhalten derzeit aus dem Pflegefonds 350 Millionen Euro extra für diesen Bereich.
Auch die SPÖ-Pensionisten sehen die Bundesregierung am Zug. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) sei gefordert, "das Tempo der Pflegereform seinen Sportschuhen anzupassen", meinte der Präsident des SPÖ-Pensionistenverbandes, Peter Kostelka. Beim Personal müsse primär das Potenzial im eigenen Land genützt werden: "Einfach zu sagen: 'In Zukunft fliegen wir eben Pflegekräfte von den Philippinen ein' - das ist keine nachhaltige Lösung. Das hat uns die Corona-Pandemie mehr als deutlich gezeigt".
Auch die Präsidentin des ÖVP-Seniorenbundes, Ingrid Korosec, macht Druck für eine "Personaloffensive und Attraktivierung" des Pflegeberufs. Sie verwies besonders auf die starke Belastung der pflegenden Angehörigen. Zu deren Entlastung sei etwa die Schaffung von mehr Kurzzeit-Pflegeplätzen sowie eine professionelle Betreuung und Begleitung pflegender Angehörige nötig.
Die Volkshilfe legte eine Umfrage vor. Demnach ist für 61 Prozent der pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten die Pflege während der Coronakrise aufwendiger geworden. Gründe waren der Wegfall von Unterstützung im Familien- und Freundeskreis, aber auch der Corona-bedingte Ausfall von mobilen Pflegedienstleistungen.