In München, bei den Olympischen Sommerspielen, fallen 16 Menschen einem palästinensischem Terroranschlag zum Opfer, in Nordirland mäht die britische Armee 13 Demonstranten nieder, Richard Nixon lässt ins Watergate-Gebäude einbrechen, und in Deutschland mordet die RAF. Trotzdem wurde 1972 höchst erfreuliche Musik gemacht. Zum Beispiel diese hier:

The Rolling Stones: Exile On Main Street
Die Stones waren in zwei miteinander zerstrittene Fraktionen zerfallen: die Junkies (Keith Richards, Mick Taylor) und die Playboys (Mick Jagger, Bill Wymann, Charly Watts). Allesamt lebten sie im südfranzösischen Steuer-Exil, wo man im Keller von Richards Villa jammte und mit fragmentarischen Songideen herumspielte.
Es herrschte eine angespannte, bedrohliche Stimmung, verschlimmert durch Alkohol und Heroin. Nach langen, quälenden Monaten erschien ein außergewöhnliches Doppelalbum - dreckig, obszön, laut, bluesig und auch countryesk. Die Fans liebten die Hymnen auf Underdogs, auf das schnelle Leben zwischen Puff, Drogenbeschaffung und Knast.
Die Kritiker hingegen brauchten noch Jahre, bis sie "Exile" jenen Status zugestanden, den es zweifellos verdient; nämlich den als beste Platte, die die Stones je gemacht haben, und eines der größten Alben der Rockmusikgeschichte. 2010 erschien eine empfehlenswerte remasterte Version.
Lou Reed: Transformer
Nach dem eher durchwachsenen Solodebüt bewies der ehemalige Velvet Underground-Frontman mit dieser Platte, dass er seinem Ruf als Genie der Songwriterkunst durchaus gerecht werden konnte. Ein Knaller jagt auf diesem Album über Transvestiten, Fixer und Bisexuelle den nächsten: "Walk On The Wild Side", "Perfect Day", "Satellite Of Love" - lauter Lieder für die Ewigkeit, die aber trotzdem den Zeitgeist der beginnenden Ära des Glam Rock widerspiegelten wie wenige andere damals. Das lag nicht zuletzt daran, dass die LP von David Bowie produziert wurde, der Reeds Songpreziosen jene schimmernde Politur verpasste, die er auch seinen eigenen Werken so gerne auftrug.
Reed hätte sich, wäre er ein weniger schwieriger Mensch, mit dieser Platte den Weg zum Superstar ebnen können, doch er schob das bedrückende "Berlin" und das fast unanhörbare "Metal Machine Music" nach. Vielleicht nicht schlau, aber sicher respektabel.
David Bowie: The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars
Wenn der Glam Rock einen König hatte, so hieß er David Bowie! Und wer den definitiven Soundtrack zu dieser wilden Zeit voller sexueller Experimente und gefährlicher Drogenkonsumwut sucht(e), der muss(te) zu dieser Platte greifen. Dieses Konzeptalbum über einen Rockstar, der zum Propheten und schließlich zur Inkarnation außerirdischer Glückseligkeitsbringer mutiert, ist Höhepunkt und gleichzeitig Satire auf den Größenwahn, der in Rockmusikantenkreisen um sich gegriffen hatte und in immer mehr und wirreren "Rockopern" seinen Ausdruck fand. Abgesehen von der reichlich seltsamen Rahmenhandlung, ist dieses Album eine lückenbüßerfreie Sammlung bester Popmusik, welche Bowie endgültig als einen ganz Großen des Geschäfts definierte und ihm den Weg frei machte zur Weltspitze der Unterhaltungsbranche.
Neil Young: Harvest
Während andere über Dragqueens und Kokain sangen, fragte Neil Young sein Publikum 1972: "Are You Ready For The Country?" Und wenn man dieses Meisterwerk hört, möchte man ihm heute noch zurufen: "Klar, sind wir!" Wie schon Bob Dylan und The Band zuvor griff Young auf den reichen Schatz volkstümlicher amerikanischer Musik zurück und verwob geschickt ländlichen Bauersleutesound mit edlem Songwriting und sozialkritischen Texten ("Alabama", "The Needle And The Damage Done").
Zusätzlichen Reiz gewinnt die Platte durch die überraschend anspruchsvollen Arrangements des Phil-Spector-Schülers Jack Nitzsche, der hier auch die Londoner Philharmonie aufspielen ließ und für einen majestätischen Klangteppich sorgte. Mit "Heart Of Gold" enthielt "Harvest" auch den ersten und immer noch einzigen Song Neil Youngs, der es an die Spitze der US-Charts schaffte. Für den Harmoniegesang zeichneten u. a. Youngs Kumpane/Konkurrenten Crosby, Stills & Nash verantwortlich.
Stephen Stills: Manassas
Wie bei den Beatles in Europa, fragte sich in den USA jeder, was die Mitglieder von Crosby, Stills, Nash & Young nach der Trennung wohl machen würden. Nun, sehr gute Platten machten sie - Stephen Stills mit "Manassas" sogar eine der besten der 70er Jahre.
Unterstützt von ehemaligen Musikern der Byrds und offen für Einflüsse, die von Jazz, Folk, Blues und Latin bis hin zu Americana reichten, schrieb Stills ein echtes Großwerk, das wiederzuentdecken sich auszahlt! Beginnend mit extrem kompetentem Bluesrock nimmt Stills einen rasch mit auf eine coole Reise durch mitklatschwürdige Rocksongs, sensible Balladen mit Mehrstimmgesang und kitsch-freien Latinorhythmen.