Richard Nixon, Willy Brandt und Golda Meir traten zurück, in Portugal siegte die "Nelkenrevolution", die Türkei und Griechenland führten Krieg um Zypern und es war immer noch Ölkrise, aber die Musik spielte weiter. Auch 1974 wurden feine Tonträger produziert, u. a. diese hier:

1974 tönt unaufhörlich. Die Musik spielt weiter . . . - © Bild: Christian Berger
1974 tönt unaufhörlich. Die Musik spielt weiter . . . - © Bild: Christian Berger

Captain Beefheart:Bluejeans & Moonbeams

Die berühmte Magic Band hatte den Kapitän gerade verlassen, weil der gar zu despotisch gewesen war und ihr das neue Material zu "kommerziell" erschien, doch das gewaltige, kaum zu bändigende Talent Beefhearts als Songschreiber reüssierte auch ohne die alten Weggefährten. Auf "Bluejeans & Moonbeams" überraschte Don Van Fliet, so der bürgerliche Name des Musikers, mit für seine Verhältnisse ungewöhnlich zugänglichen Love-Songs ("Obervatory Crest", "Bluejeans & Moonbeams") und cool relaxtem Pop-Funk ("Pompadour Swamp").

Kommerziell zur Erscheinungszeit ein Flop wie alle Alben Beefhearts, entwickelte sich die Platte später zu einem Indie-Evergreen, der u. a. von Patti Smith, den White Stripes und Kate Bush als einflussreich beschrieben wurde.

Genesis: The Lamb LiesDown On Broadway

Kurz bevor Peter Gabriel die Band verließ, stemmten er und Phil Collins, Mike Rutherford, Tony Banks und Steve Hackett noch ihr wohl stärkstes Werk und ließen ein Konzept-Doppelalbum auf die Welt los - mit einer nur schwer entschlüsselbaren Story, in der ein gewisser Rael sich auf eine düstere Reise in die Unterwelt macht, um seinen Bruder John zu finden. Wie bei Progrockopern üblich, darf der Hörer viel rätseln und frei assoziieren. Zwei der gängigeren Interpretationen: Es ginge um Schizophrenie und Rael und John seien in Wahrheit dieselbe Person; oder dies sei ein Versuch, den Moment des Sterbens zu beschreiben. Obwohl Genesis mit dem Album 1974 und 1975 ausgiebig tourten, existiert bis heute kein durchgängiger Live-Mitschnitt, aber Songs wie "The Carpet Crawlers" und "In The Cage" wurden bis zur endgültigen Auflösung der Gruppe bei Konzerten immer wieder gespielt.

Supertramp:Crime Of The Century

Nach zwei erfolglosen Platten gelang der Band um Roger Hodgson und Rick Davies mit diesem poppigen Vertreter des Artrock der internationale Durchbruch. Perfekt arrangierte, eingängige Songs treffen auf sozialkritische Texte, die geschickt die Ängste junger Menschen im Kapitalismus thematisieren: Erfolgsdruck in der Schule, Entfremdung, Außenseitertum, Versagensangst, Normierungszwang und die Drohung mit der Psychiatrie werden besungen.

Und das alles mit einem Trademark-Sound, den allenfalls noch die Beatles so hingekriegt hätten. Mit den Songs "Dreamer" und "Bloody Well Right" landeten Supertramp erstmals in den Hitparaden rund um die Welt und legten damit den Grundstein für eine Karriere als Weltstars, die fünf Jahre später mit dem Multi-Millionen-Seller "Breakfast In America" ihren Höhepunkt erreichen sollte.

John Cale: Fear

Während Lou Reed 1974 künstlerisch schwächelte, lieferte sein Ex-Kollege von Velvet Underground nach "Paris 1919" im Vorjahr schon wieder ein makelloses Meisterwerk ab. Gleich mit dem Opener "Fear Is A Man’s Best Friend" knallt einem Cale einen mitreißenden Song um die Ohren, der vom melodieseligen Kunstlied zur verstörenden Kakophonie nur knapp vier Minuten braucht.

Mit "Buffalo Ballet", "Emily" und "Ship Of Fools" folgen drei der schönsten Balladen, die es je auf eine Schallplatte geschafft haben - und mit dem kratzigen "Gun", das auch gut auf das proto-punkige Velvet-Underground-Album "White Light/White Heat" passen würde, zeigt Cale, dass er wie kaum ein anderer eine Atmosphäre dreckiger Verkommenheit schaffen kann. John Cale mag zu dieser Zeit ein saufender Junkie gewesen sein, musikalisch aber konnte ihm kaum einer das Wasser reichen.

Richard And Linda Thompson:I Want To See The BrightLights Tonight

Manchmal braucht die Menschheit etwas länger, um große Kunst zu würdigen. Wie zum Beispiel bei dieser Platte. Die wurde, als sie erschien, weitgehend ignoriert, wird heute aber unter Musikkritikern als eine der besten der 70er Jahre bewertet. Richard Thompson, vormals bei Fairport Convention, und seine Frau Linda haben hier ein Folkrock-Album von einer Wucht und Tiefe geschaffen, wie man sie in der populären Musik nur selten antrifft.

Hier werden die tiefsten Täler menschlicher Traurigkeit durchwandert und das mit einer musikalischen Eleganz, die dazu führte, dass viele der Songs von dieser Platte zu den meist gecoverten überhaupt wurden. Wem es zu gut geht, der sollte dringend das Lied "The End Of The Rainbow" auflegen und den folgenden Zeilen lauschen: "Life seems so rosy in the cradle, but I’ll be a friend, I’ll tell you what’s in store / There’s nothing at the end of the rainbow, there’s nothing to grow up for anymore."