Zum Hauptinhalt springen

Der Preis der Selbstbestimmung

Von Gertrude Brinek

Recht

Was und wie viel darf Selbstbestimmung kosten? Warum das neue Erwachsenenschutz-Gesetz nicht blockiert werden darf.


Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Vater mit einem familienfremden Sachwalter das Spital verlässt - genau zu dem Zeitpunkt, an dem Sie von Ihrer Auslandsreise zurückkommen? Können Sie sich ebenso vorstellen, dass man Ihnen eine Nachfrage bezüglich der Umstände verweigert, weil Sie ja nach der gerichtlichen Entscheidung als Angehöriger keine Rechte mehr haben? Können Sie sich in weiterer Folge vorstellen, tatenlos beobachten zu müssen, wie der Sachwalter alles unternimmt, um Ihren Vater in einem Pflegeheim unterzubringen - gegen seinen Willen - und dabei ist, sein Haus zu verkaufen?

Haben Sie schon gehört, dass ältere Personen nach einer Krankenbehandlung etwas irritiert wirken oder etwa nach dem Verlust des Ehepartners vorübergehend "aus der Spur" (O-Ton einer Betroffenen) sein können und Hilfe brauchen? Haben Sie in solchen Zusammenhängen gehört, dass so gut wie jedermann eine Sachwalterschaft anregen kann und dass vor allem im städtischen Bereich familienfremde Personen (Rechtsanwälte, Notare) als Sachwalter fungieren und diese oftmals zeitlich unbegrenzt und voll umfänglich ausüben?

Wussten Sie, dass etwa 60.000 Menschen in Österreich besachwaltet sind und damit nur von einem Taschengeld, das der Sachwalter oder die Sachwalterin festlegt, leben müssen, keinen Zugang zum Konto haben und sich insgesamt als entmündigt erleben?

Wussten Sie, dass sich in den letzten Jahren hunderte Menschen bei der Volksanwaltschaft beschwert, um Hilfe gerufen und damit auf einen eklatanten Reformbedarf hingewiesen haben?

Österreich bietet Menschenmit Behinderung keine Hilfe

Wussten Sie, dass Österreich mit der UN-Behinderten-Konvention eine völkerrechtliche Verpflichtung eingegangen ist, die offenkundig ignoriert wird? Viel zu oft und zu umfassend werden Menschen mit Behinderungen besachwaltet und damit ihrer Selbstbestimmung beraubt, anstatt echte Unterstützung anzubieten, so die Rüge, die Österreich einstecken musste und aktuell muss.

Wahrscheinlich wissen Sie auch nicht so genau, aber nun doch, dass der Bundesminister für Justiz eine vorbildlich aufgestellte Reform-Arbeitsgruppe eingerichtet hat und das Ergebnis - gemäß Regierungsprogramm - nach der Begutachtung vorliegt, aber vom Finanzminister blockiert wird. Aus jeder skizzierten Perspektive unverständlich, wie auch aus dem Parlament zu vernehmen ist.

Von allen fachkundigen Ebenen kamen Unterstützungsbekundungen, soll doch mit dem neuen Gesetz dagegen angekämpft werden, dass Sachwalterschaften zu früh, zu umfassend, dauerhaft und in Missachtung der persönlichen Wünsche und der Wünsche der Angehörigen angeordnet werden. Nur in Ausnahmefällen soll es künftig zur Anordnung von gerichtlichen Sachwalterschaften kommen; am Beginn soll die Vorsorgevollmacht stehen, mittels der man persönliche Dispositionen und Verfügungen trifft, um möglichst lang "Herr im eigenen Haus" zu bleiben. Dieses neue Tor zur Selbstbestimmung muss professionell und leistbar gestaltet und in einem Zentralregister erfasst werden, damit es "wirkt".

Es kostet mehr,wenn nichts geschieht

Eine wichtige Funktion haben dabei die Sachwaltervereine, die einerseits auch Vorsorgevollmachten abzufassen helfen, beraten und andererseits als unterstützende Gutachter für die Gerichte fungieren. Was Geld kostet, nicht unverschämt viel. Und worüber nun bedauerlicherweise eine Diskussion entstanden ist, die niemand nachvollziehen kann.

Unbeachtet bleibt, dass es mehr kostet, wenn nichts geschieht: Die Menschen werden älter, hilfsbedürftiger, die Gerichts-, Anwalts- und Gutachterkosten steigen - sowohl auf der individuellen als auch auf der strukturellen Ebene. Dabei sind die Kosten für die gesundheitliche und pflegerische Versorgung noch nicht mitgerechnet.

Ziel ist eine Einschränkungder Sachwalterschaften

Diese Probleme zu lösen, kommt auf die Wohlfahrtspolitik ohnedies noch zu. Oder ist die Veröffentlichung wesentlicher Studien über die zunehmende Unterstützungsbedürftigkeit im Alter am Finanzministerium vorbei gegangen? À la longue soll mit dem neuen Gesetz die Zahl der Sachwalterschaften eingedämmt und die Zahl der selbst gewählten Erwachsenenvertreter angehoben werden - eine finanzielle Stabilisierung also.

Die erlebbare spezifische Ohnmacht von Betroffenen und ihren (so gut wie rechtlosen) Angehörigen wird der Politik angelastet. Sie spiegelt eine gesellschaftspolitische und juristische Problemlage wider, die bei weiterer Ignoranz der Umstände und Fortführung der bisherigen Praxis immer größer und gesellschaftspolitisch belastender wird. Längst umfasst sie nicht nur den Bereich der Justiz, sondern ragt in den Bereich der Sozial-, Gesundheits- und Wohlfahrtspolitik hinein und fordert Gesetzgebung und Vollzugspraxis gleichermaßen.

Wie viel Ignoranz ist weiterhin vertretbar? Wie viel Entmündigung weiterhin geduldet? Wie lang darf eine völkerrechtlich gebotene und eine sozial-, gesellschafts- und gesundheitspolitisch erforderliche Reform blockiert werden?

Gastkommentar

Gertrude Brinek

ist seit 2008 Volksanwältin und unter anderem für Steuern, Gebühren, Abgaben und die Verfahrensdauer bei Gerichten zuständig. Außerdem prüft sie die Gemeindeverwaltungen und alle kommunalen Angelegenheiten.