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Drei Krisen und ein Stück Ärger

Von Wolfgang Gratz

Recht

Unserem politisch-administrativen System fehlen professionelle Achtsamkeit und die Bereitschaft zur Selbstprüfung.


Im Dezember 2014 musste das Welternährungsprogramm der UNO aus Geldmangel seine Hungerhilfe an 1,7 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens einstellen. Auch aufgrund der Zuspitzung des Krieges in Syrien kam es zu einem dramatischen Anstieg der Ankünfte von Flüchtenden in Griechenland. Im Juni 2015 öffnete Mazedonien seine bis dahin für Flüchtende weitgehend geschlossene Grenze zu Griechenland. Die Balkan-Route entstand. Ungarn hatte bis Ende August 140.000 Asylanträge zu verzeichnen. In Österreich befanden sich im Juli 2015 in der Bundesbetreuungsstelle Traiskirchen 4500 Asylsuchende, darunter 2000 unbegleitete Minderjährige. Sie nächtigten zu erheblichen Teilen unter freiem Himmel. Die groben Versorgungsmängel fanden auch weltweit große Beachtung.

Vor diesem Hintergrund ist die offizielle Geschichtsschreibung, die da lautet, die Ereignisse des Herbstes 2015 in Österreich seien völlig unvorhersehbar durch "Wir schaffen das"-Äußerungen ausgelöst worden, bemerkenswert. War es sinnvoll, anzunehmen, dass die Bewegungen der Flüchtenden vor Österreichs Grenzen Halt machen würde?

Reagieren statt agieren

Die spätere Ankunft von rund 900.000 Flüchtenden in Österreich und deren mehrheitliche Durchreise verlief wegen des großen Improvisationsvermögens und hohen Engagements der Einsatzkräfte, der NGOs und der Zivilgesellschaft weitgehend problemlos. Man kam aber im Management der Bewegungen über bloßes Reagieren nicht hinaus. Es ist bemerkenswert, wie überrascht und unvorbereitet der österreichische Staat im September 2015 war, zumal Ende August die Zahl der nach Österreich kommenden Flüchtenden bereits stark angestiegen war. Noch überraschender ist es, dass trotz der völligen Vorhersehbarkeit der Verlagerung der Flüchtlingsströme über Kroatien und Slowenien in die Steiermark man in Spielfeld ebenso improvisierend wie im Burgenland vorging und auch dort nur schrittweise ein strukturiertes Grenzmanagement aufbaute.

Die sogenannten "Durchbrüche" von Flüchtlingen, die ebenso wie im Burgenland nur kurzfristige Bewegungen darstellten, sorgten in dem bereits etwas zugespitzten Klima in der Steiermark für heftige lokale und landespolitische Reaktionen und Vertrauensverluste in das staatliche Krisenmanagement.

Ein klarer politischer Auftrag der Bundesregierung fehlte. Diese betrieb keine koordinierte Krisenkoordination, es erfolgte weder eine Erklärung der Zusammenhänge (framing) noch eine Vermittlung von Bedeutung und Sinn der Ereignisse (sense making). Das Engagement der vielen Freiwilligen während der Transitbewegungen und nunmehr bei der Betreuung von Asylwerbern blieb weitgehend unbedankt und wurde auch, als man meinte, die Zivilgesellschaft nicht mehr so dringend zu brauchen, abgewertet. Während Deutschland bereits nach einigen Wochen begann, ein geordnetes Grenzmanagement mit Registrierung der Flüchtenden aufzubauen, geschah dies in Österreich erst Ende Jänner 2016, als die Zahl der Flüchtenden bereits drastisch zurückgegangen war.

Nach einem Hochwasser ist es Standard, unter Einbindung aller Akteure eine Nachbearbeitung, somit kritische Evaluation der Abläufe und dem Ziel, Lernfelder zu eröffnen, vorzunehmen. Dies geschah auf Bundesebene im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise bisher nicht.

Griss-Bericht ohne Wirkung

Schauplatzwechsel: Der Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission zur transparenten Aufklärung der Vorkommnisse rund um die Hypo Group Alpe Adria, ("Griss-Kommission") kam zu klaren Ergebnissen bezüglich der Vorgehensweise der Verantwortlichen. Die Positionen aller beteiligten Akteure wurden nicht durchleuchtet, es wurden keine Szenarien entwickelt und keine Strategie formuliert. Der Umgang mit den zuständigen Stellen und Entscheidungsträgern der Europäischen Union war defizitär und löste dort Befremden aus. "Die Versäumnisse des Bundes liegen nicht nur in einer mangelnden Informationsbeschaffung, sondern vor allem auch in der fehlenden strategischen Planung."

2016 zeigte die Bundespräsidentenwahl, das mit durchaus schlichten Mitteln eine veritable Staatskrise ausgelöst werden kann. Zur Vorgeschichte: 2010 findet sich in der Zeitschrift des Innenministeriums "Öffentliche Sicherheit" ein Beitrag über die bevorstehende internationale Walbeobachtung der damaligen Bundespräsidentenwahl durch die OSZE. "Die Wahlbeobachtung durch die OSZE stellt dabei eine Chance dar, vom Input externer Experten zu profitieren." Diese schlugen in ihrem Bericht vor, "die Verteilung, Retournierung und Aufbewahrung der Wahlkarten strenger zu gestalten, um den Missbrauch eines derzeit zu einem erheblichen Ausmaß auf Vertrauen beruhenden Systems zu verhindern." Sie stellten auch einige Fälle fest, in denen Mitglieder von Wahlbehörden das Ergebnisprotokoll im Voraus unterzeichnet hatten.

OSZE nicht ernst genommen

Die Alarmglocken hätten schon deshalb laut schrillen müssen, weil der Verfassungsgerichtshof nicht nur in seinem viel zitierten Erkenntnis von 1927 bei Wahlen einen sehr strengen, um nicht zu sagen formalistischen Maßstab anlegte. In seiner Entscheidung über die Bundespräsidentenwahl 2016 zitiert er 18 Entscheidungen in der Zweiten Republik, die eine ständige Rechtsprechung ergeben, und führt aus: "In zahlreichen weiteren Fällen bis in jüngste Zeit hat der Verfassungsgerichtshof Wahlen wegen des Vorliegens derartiger Rechtswidrigkeiten aufgehoben, ohne dass es darauf ankam, dass ein Missbrauch nachgewiesen wurde oder auch nur wahrscheinlich war; schon gar nicht musste die festgestellte Gesetzwidrigkeit zu einer tatsächlichen Verfälschung des Wahlergebnisses in einem Ausmaß führen, das auf das Ergebnis der Wahl von Einfluss war."

Ich folgere daraus: Wenn man sich an der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs orientiert hätte und den OSZE-Bericht ernst genommen hätte, wäre uns viel erspart geblieben.

Die drei Krisen ergeben in Summe einen massiven Legitimationsverlust des Staates und seiner Organe bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen und haben auf die politische Landschaft Österreichs erheblichen Einfluss. Sie verbindet ein gemeinsamer Nährboden, nämlich die Organisationskultur unseres politisch-administrativen Systems. Ihr fehlen Formen professioneller Achtsamkeit, die sich an der Bereitschaft zur Selbstprüfung erkennen lassen.

Während des Zweiten Weltkrieges machte Winston Churchill die für ihn erschreckende Entdeckung, dass Singapur entgegen seiner Annahme einer japanischen Invasion kaum etwas entgegenzusetzen hatte. In seinen Memoiren schreibt er: "Ich hätte es wissen müssen. Meine Berater hätten es wissen müssen, man hätte es mir sagen müssen, und ich hätte fragen müssen." Hieraus leitet die Fachliteratur vier Fragen ab: Warum habe ich es nicht gewusst? Warum haben meine Berater es nicht gewusst? Warum hat es mir niemand gesagt? Warum habe ich nicht gefragt?

Vier österreichische Fragen

In der Auseinandersetzung mit den drei Krisen fehlte und fehlt in der Grundhaltung der zentralen Entscheidungsträger mehr oder weniger eine Orientierung an den vier Fragen. Die erkennbaren Defizite im staatlichen Handeln beruhen auch auf den vier österreichischen Fragen: Wieso brauchte ich es nicht zu wissen? Wieso konnte ich es nicht wissen? Welchen anderen kann ich verantwortlich machen? Wie kann ich die Angelegenheit als schicksalhaft, nicht vorhersehbar und meine Vorgehensweise als korrekt und alternativlos darstellen?

Der österreichische Weg der Krisenprävention und des Krisenmanagements war bisher gekennzeichnet von: "Wir sind eh ganz gut und das reicht; wenn etwas passiert, wird uns schon was dazu einfallen; wozu daher unangenehme und schwierige Themen angehen, wenn etwas passiert ist, Schwamm drüber." Unter den gegenwärtigen internationalen und nationalen politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen ist dieses Modell nicht mehr zukunftsfähig. Ich persönlich mache mir nicht nur, aber auch aufgrund der drei skizzierten Krisenformen erstmals in meinem Leben ernsthafte Sorgen um die Zukunft unseres Staates. Ich verspüre auch einen gewissen Ärger, dass sie aus meiner Sicht unnötig, vermeidbar und leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird.

Gastkommentar

Wolfgang Gratz

ist unter anderem Experte für empirische Verwaltungsforschung, sein aktuelles Buch: "Das Management der Flüchtlingskrise. Never let a good crisis go to waste" ist im NWV erschienen.