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Zwischen Schutz und Bevormundung

Von Gernot Fellner

Recht

Der Ärzteschaft wird im neuen Erwachsenenschutzrecht eine besondere Verantwortung auferlegt.


Seit etwas mehr als einem halben Jahr, seit dem 1. Juli 2018, bildet die Vorsorgevollmacht die erste Säule der vier Vertretungsformen, die das neue Erwachsenenschutzrecht auszeichnen. Sie ist in Bezug auf die Eingriffsintensität das gelindeste der künftig zur Verfügung stehenden Mittel. Die Vorsorgevollmacht ist, wie auch alle übrigen Vertretungsformen, in das Österreichische Zentrale Vertretungsverzeichnis (ÖZVV) einzutragen. Die Regelung der Vorsorgevollmacht wird weitgehend aus dem bisherigen Recht übernommen, weil sie sich bewährt hat. Konstitutive Voraussetzung der Wirksamkeit einer solchen Vollmacht ist aber, dass sowohl die Tatsache der Errichtung einer Vorsorgevollmacht als solcher als auch der Eintritt des Vorsorgefalls im ÖZVV eingetragen werden.

Für die Eintragung des Eintritts des Vorsorgefalles (also Verlust der Entscheidungsfähigkeit) ist ein ärztliches Zeugnis erforderlich. Der Ärzteschaft wird damit eine besondere Verantwortung auferlegt, weil die Gutachten, die die Wirksamschaltung einer Vorsorgevollmacht rechtfertigen, den Grad des Verlustes oder des Noch-Vorhandenseins der Entscheidungsfähigkeit eines Patienten exakt und im Detail abbilden müssen.

Die Errichtung der Vorsorgevollmacht:

Die Vorsorgevollmacht muss seit 1. Juli 2018 zwingend nach Rechtsbelehrung durch den Notar (Rechtsanwalt, Erwachsenenschutzverein), höchstpersönlich und schriftlich sowie vor einem Notar, Rechtsanwalt oder Erwachsenenschutzverein errichtet werden. Der Beratung kommt dabei, wie bei allen Rechtsfürsorgeinstrumenten, eine hohe Bedeutung zu, weil die schutzberechtigten Personen von diesen in der Folge besonders betroffen sind. Durch die Formvorschrift soll der Kritik Rechnung getragen werden, wonach die bisher zulässige "eigen- oder fremdhändige" Errichtung der Vorsorgevollmacht, die tatsächlich all jene Angelegenheiten regeln soll, deren Erledigung im Vorsorgefall anstehen, die Parteien rechtlich meist überfordert hat.

Aus Sicht des juristischen Praktikers war die bisherige Möglichkeit, die Vorsorgevollmacht ohne rechtliche Beratung verfassen zu können, nicht ideal. Auch bei Verwendung von Formularen und Mustervollmachten fehlte doch der individuelle Zuschnitt einer solchen Vollmacht auf die persönlichen Bedürfnisse des Vollmachtgebers. Dazu kommt, dass sich, jedenfalls im notariellen Beratungsbereich, schon bisher die Ausgestaltung der Vorsorgevollmacht als zweiseitiger Bevollmächtigungsvertrag zwischen Vollmachtgeber und Vollmachtnehmer samt inkludiertem Auftragsverhältnis als absolut zweckentsprechend herausgestellt hat. Die Errichtung eines zweiseitigen Bevollmächtigungsvertrages mit allen seinen rechtlichen, medizinischen und wirtschaftlichen Implikationen jedoch überfordert zu allermeist den juristischen Laien.

Die Vorsorgevollmacht kann gemäß § 261 ABGB für einzelne Angelegenheiten oder als Gattungsvollmacht für Arten von Angelegenheiten erteilt werden. Letzteres erhöht die Flexibilität der Einsatzbarkeit der Vollmacht, erschwert aber die im folgenden Abschnitt beschriebene Ausstellung eines detaillierten ärztlichen Gutachtens.

Das Wirksamwerden der Vorsorgevollmacht - Erfordernis eines ärztlichen Zeugnisses:

Im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage darf der Eintritt des Vorsorgefalls im ÖZVV seit 1. Juli 2018 nur insoweit eingetragen werden, als der Vollmachtgeber die zur Besorgung der (in der Vollmacht) anvertrauten Angelegenheiten erforderliche Entscheidungsfähigkeit verloren hat.

Zum Nachweis des Verlustes der Entscheidungsfähigkeit der vollmachtgebenden Person bei einer Registrierungsstelle ist ein entsprechendes ärztliches Zeugnis vorzulegen. Dieses Gutachten hat daher ganz individuell unter Berücksichtigung der kognitiven Fähigkeiten des Vorsorgevollmachtgebers auszudrücken, in welchen Teilbereichen des gesamten Vollmachtsumfanges die Entscheidungsfähigkeit fehlt und in welchen Teilbereichen sie noch gegeben ist.

Der Gesetzgeber hat offen gelassen, ob es sich bei dem ärztlichen Gutachter um einen Facharzt (etwa für Neurologie) handeln muss oder ob auch zum Beispiel jeder niedergelassene Arzt für Allgemeinmedizin derartige Bescheinigungen für seine Patienten ausstellen kann. Die Verantwortung für die Richtigkeit dieser Bescheinigung wird also vom Gesetzgeber ausgelagert, und zwar an den ärztlichen Gutachter einerseits und an die Registrierungsstelle andererseits. Zu bescheinigen ist der Registrierungsstelle die eingetretene Einschränkung der Entscheidungsfähigkeit des Vollmachtgebers in den laut Text der Vollmacht vom Wirkungsbereich des Vertreters zu besorgenden Angelegenheiten.

Dies dürfte in der Praxis einige Probleme aufwerfen. Der ärztliche Gutachter muss nämlich im Sinne des vom Erwachsenenschutz-Gesetz normierten Grundsatzes der größtmöglichen Erhaltung der Autonomie einer erwachsenen Person in einem ersten Schritt genau prüfen, welche rechtlichen Belange von der Vorsorgevollmacht umfasst sind. In einem zweiten Schritt muss er prüfen, ob und inwieweit die vollmachtgebende Person in diesen Belangen noch entscheidungsfähig ist oder nicht. Der Eintritt des Vorsorgefalls darf nämlich nicht generell eingetragen werden, sondern nur hinsichtlich der in der Vollmacht konkret zur Besorgung aufgetragenen Angelegenheiten, diesbezüglich aber auch nur im Umfang des Verlustes der Entscheidungsfähigkeit.

Man wird aus ärztlicher Sicht von zwei Seiten an diese Aufgabe herangehen können:

Entweder: Der Arzt prüft zunächst, am besten gemeinsam mit dem Verfasser der Vorsorgevollmacht, die inhaltliche Reichweite der Vorsorgevollmacht. Hat man den Umfang der zur Besorgung aufgetragenen Angelegenheiten genau erfasst, prüft der Arzt, ob und inwieweit die vollmachtgebende Person hierzu selbst nicht mehr ausreichend entscheidungsfähig ist. Der Arzt erstellt schließlich einen Katalog derjenigen Angelegenheiten, die nicht mehr selbst besorgt werden können, und es vertritt der Vorsorgebevollmächtigte nur in diesem engen Rahmen.

Oder: Der Arzt erstellt nach Untersuchung des Patienten einen Katalog der von der vollmachtgebenden Person nicht mehr selbst zu besorgenden Angelegenheiten. Der begutachtende Arzt bringt diesen Katalog, am besten gemeinsam mit dem Verfasser der Vorsorgevollmacht, durch Vergleich mit dem Inhalt der Vorsorgevollmacht in Einklang, und es vertritt der Vorsorgebevollmächtigte ebenfalls nur in diesem engen Rahmen. Grober Maßstab für die ärztliche Beurteilung des Umfanges des Verlustes der Entscheidungsfähigkeit einer Person im Zusammenhang mit dem Wirksamwerden einer Vorsorgevollmacht wird meines Erachtens eventuell per analogiam § 252 Abs 2 ABGB idF 2. ErwSchG sein können: "Hält der Arzt eine volljährige Person für nicht entscheidungsfähig, so hat er sich nachweislich um die Beiziehung von Angehörigen, anderen nahe stehenden Personen, Vertrauenspersonen und im Umgang mit Menschen in solchen schwierigen Lebenslagen besonders geübten Fachleuten zu bemühen, die die volljährige Person dabei unterstützen können, ihre Entscheidungsfähigkeit zu erlangen. Soweit sie aber zu erkennen gibt, dass sie mit der beabsichtigten Beiziehung anderer und der Weitergabe von medizinischen Informationen nicht einverstanden ist, hat der Arzt dies zu unterlassen."

Sonstige Anhalte für die Gutachtertätigkeit der Ärzte im Zusammenhang mit der Wirksamschaltung einer Vorsorgevollmacht sind dem Gesetz nirgends zu entnehmen. Die notwendigen Abgrenzungen werden in der Praxis daher ein relativ aufwendiges Prozedere nach sich ziehen, das auch auf die Kosten für das ärztliche Zeugnis Einfluss haben dürfte.

Bei Begutachtung eines Patienten als Vorsorgevollmachtgeber ist die Verantwortung sowohl eines niedergelassenen praktischen Arztes als auch der Registrierungsstelle nicht unerheblich. Denn Letztere wird aufgrund eines fachärztlichen Gutachtens eher annehmen können, dass der Vorsorgefall eingetreten ist, als aufgrund der Bescheinigung durch einen nicht auf psychiatrisch-neurologische Erkrankungen spezialisierten Arzt.

Bei einer schleichenden Demenzerkrankung wird ein zumindest periodisches Nachbessern oder "Nachschärfen" des Vertretungsumfanges unerlässlich sein. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Vorgaben des Gesetzgebers in der Praxis umsetzen lassen und welche Richtschnur die Judikatur zu diesen Problemen spannen wird.

Auch für die registrierende Stelle wird die Verantwortung steigen. Denn es wird geprüft werden müssen, ob das vorgelegte ärztliche Zeugnis inhaltlich ausreichend ist und die vom Verlust der Entscheidungsfähigkeit betroffenen Teilbereiche des in der Vorsorgevollmacht beschriebenen Vertretungs- und Auftragsverhältnisses genügend detailliert umschrieben sind. Sonst müsste die Registrierung der Wirksamkeit der Vorsorgevollmacht abgelehnt werden.

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