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Das Recht im Wandel

Von Nikolaus Lehner

Recht
Die zehn Gebote zeugen von einer Zeit, als die Einheit von Recht und Religion noch nicht aufgelöst war.
© Adobe/styleuneed

In seinem Essay "Wie das Recht in die Welt kommt" schildert Alfred J. Noll, wie wir Menschen um unser Rechtssystem gerungen haben.


Wien. Der Verfasser ist nicht nur Praktiker als Rechtsanwalt, Funktionär, Hochschullehrer und Sachbuchautor, Abgeordneter im Nationalrat, Redner, abstrakter Maler, sondern vor allem auch Wissenschafter. Als vielfacher Autor ist er ebenfalls in der Fachwelt bekannt. Nun brachte Alfred J. Noll den Essay "Wie das Recht in die Welt kommt" heraus, in dem er sich mit der Frage beschäftigt, wie sich die Menschen von Beginn an ihre Rechtsordnung entwickelten. Er schildert mit großer Sachkenntnis und seinem beeindruckenden Sprachkunstwerk, wie und warum wir intensiv um unser Rechtssystem gerungen haben und ringen.

Noll gelingt Networking mit allen verstorbenen Geistesgrößen und interpretiert sie noch für uns. In diesem ersten Teil zeigt er die Entwicklung des Rechts im Wandel der Geschichte auf, bedingt durch die jeweiligen historischen Ereignisse. Und er verspricht uns einen zweiten Teil, in dem es um die Themen und Institutionen geht, die die Neuzeit prägen: Verfassung, Eigentum, Vertrag, Sicherheit, Strafe und Demokratie.

Alternative zum Spezialistentum

Wichtig ist ihm die Feststellung, dass er den Stoff aus zweiter respektive dritter Hand geschöpft hat, und es sich daher um keine wissenschaftliche Arbeit handelt. Die unzähligen Quellen, derer er sich bedient, legt er nach jedem Kapitel offen. Für uns Anwälte erinnert er sich an seinen und auch meinen Lehrer Theo Mayer-Maly und dessen Vision einer Alternative zum Spezialistentum: "Was wir brauchen, ist eine Jurisprudenz, die auf das Recht als Ganzes sieht - eine enzyklopädische Jurisprudenz." Noll schließt sein Buch mit den Worten "ein Anlauf". Ich schätze diese Arbeit nicht als einen analytischen, sondern impressionistischen Essay ein, der uns in lockerer Weise daran erinnert, was wir zum Teil (fast) vergessen haben.

Noll beginnt mit der Entwicklung des Rechts bei den Griechen, vergisst dabei aber nicht, dass schon vor den Griechen das "frühe Recht" ein Ergebnis mündlicher Kommunikation war. Das älteste Gesetz ist der Codex Ur-Nammu, circa 2100 v. Chr. Es ist im Auftrag des ersten Herrschers entstanden, von dem man weiß, dass er sich selbst als Gesetzgeber bezeichnet hat. Soweit bekannt ist, behandeln die ersten Gesetze inhaltlich Kapitalverbrechen, und der Komplex des Schuldrechts fehlt fast völlig. Nach Entstehung der zehn Gebote im 7. Jahrhundert v. Chr., wonach Gott persönlich die Tafeln und die Schrift geschaffen hat, entwickeln sich die römischen zwölf Tafelgesetze 449 v. Chr., und es gibt viele (widersprechende) Berichte wie zum Beispiel von Livius.

Nikolaus Lehner ist seit mehr als 40 Jahren Anwalt in Wien für Litigation PR und Beratung von Künstlern; in der Folge Kurator für Ausstellungen sowie Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik.
© privat

In dieser Zeit war die Einheit von Recht und Religion noch nicht aufgelöst. Es wäre nicht Noll, wenn er nicht Heinrich Heine den Corpus iuris civilis die "Bibel des Teufels" nennen lassen würde. Von Karl Marx berichtet er uns die nicht minder verurteilende Klassifikation der Römer als Rationalisten des Privateigentums.

Gottesurteil und Zweikampf

Im byzantinischen Staatswesen herrschte die Meinung/das Evangelium: Die Kaiser Roms halten sich selbst für die Nachfolger Christi. Unter Justinian und seinem Kronjuristen Tribonian entstanden die (sogenannten) Institutionen, die Digesten und der Codex. Noll meint, dass Herodes diese Kodifikation das achte Weltwunder genannt hätte. Die Bedeutung der Kodifikation blieb in Europa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestehen (Rezeption).

Die Germanen hatten keine geschriebenen Gesetze, die Aufzeichnungen der Stammesfürsten war eine Folge der Berührung mit der römischen Welt. Im 11. Jahrhundert entsteht der feudale Territorial- und Fürstenstaat; in dieser Zeit war das Ziel der Gesetze, die Macht der Gutsherren über die zu Leibeigenen gewordenen Bauern aufrechtzuerhalten. Bis in das 12. Jahrhundert herrschten in Europa das Gottesurteil und der Zweikampf. Bis zum 13. Jahrhundert war das Recht zersplittert, es gab keine Weiterentwicklung. Erst der Privatmann Eike von Repgow schrieb den "Sachsenspiegel" zunächst in Latein, in der Folge in einer niederdeutschen Übersetzung, er bezog sich zum Teil noch auf biblische Quellen.

Der "Sachsenspiegel" wird zum Bestseller und zur Grundlage des in der Neuzeit verbreiteten Rechts. Eike von Repgow spiegelt ihm zufolge nicht das Recht der Sachsen, sondern die Gesellschaft der Sachsen im Recht und durch das Recht. Das Buch ist deshalb ein Spiegel der Sachsen, weil es deren Recht "bekannt" (bekennt). Dieses Buch wird von einem unbekannten Verfasser fortgesetzt und seit dem 17. Jahrhundert in Österreich als "Schwabenspiegel" in Verbindung mit lokalen Quellen verwendet.

"Wie das Recht in die Welt kommt" des Juristen und Soziologen Alfred J. Noll geht der Frage nach, wie sich Menschen ihre Ordnung geben (Edition Konturen, 1. Auflage, 2018, 272 Seiten).

Neben dem Adel und den Bauern bildet sich als neues soziales Element das Stadtbürgertum. In der Folge kommt es wieder zur Entwicklung gegeneinander kämpfender Schichten, cives majores und minores, also die Großbürger (Patrizier) einerseits und der städtischen Plebs andererseits. Die bisher herrschende Rittergesellschaft wurde durch diese überrascht.

Übergeordnete Wesenheit

Das letzte Kapitel nennt Noll "das Recht der Menschen". Darin schildert er die Entwicklung der Menschenrechte, beginnend im 19. Jahrhundert, obwohl - so Noll - schon die Stoiker Gedanken dazu hatten, weil das Recht an eine übergeordnete Wesenheit gebunden sein könnte, die "allgemein menschlich" ist. Noll beschäftigt sich dann ansatzweise mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Thomas Hobbes und hält fest, dass diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.

Geschichtlich betrachtet, ist jede Rechtsordnung immer in Entwicklung und Umgestaltung begriffen. Normen können nur moralische Appelle, sittliche Konventionen, Postulate gesellschaftlichen Verhaltens sein, die aber auch rechtswirksam werden können, wie etwa die Billigkeitsklauseln. Nicht zu vergessen auch das Gewohnheitsrecht, das im Wege der Analogien wie ein "echtes" Gesetz zur Anwendung kommen kann und schließlich als letzte Stufe die Norm, unter die wiederum subsumiert werden kann.

Ich bin überzeugt, nicht der Einzige zu sein, der nach Kennenlernen dieses Buches auf die angekündigte Fortsetzung neugierig ist.