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Europa im Wettbewerb mit China und den USA

Von Bernhard Kofler-Senoner und Patrick Samek

Recht

Nach der Untersagung der Zug-Fusion von Siemens und Alstom wird der Ruf nach europäischen Champions laut. Eine kritische Bewertung.


Anlässlich der Untersagung der geplanten Fusion des deutschen Konzerns Siemens mit der französischen Alstom im Zug-Geschäft wird erneut der Ruf nach europäischen Champions laut. Frankreich und Deutschland stießen eine Diskussion über Änderungen des europäischen Fusionskontrollsystems an, um wettbewerblich problematische Fusionen aus industriepolitischen Gründen zu ermöglichen. Dem Prinzip "Size Matters" folgend, sollen europäische Champions auf dem Weltmarkt gegen Großkonzerne aus den USA und China antreten.

Der Anlassfall

Anfang Februar 2019 hatte die Europäische Kommission als zuständige Wettbewerbsbehörde die Übernahme des französischen Alstom-Konzerns durch den deutschen Mischkonzern Siemens untersagt. Die Kommission begründete das vor allem damit, dass das fusionierte Unternehmen auf dem Markt für Höchstgeschwindigkeitszüge zum dominanten Akteur geworden wäre und die damit verbundene Einschränkung des Wettbewerbs höhere Preise und eine geringere Auswahl für die Kunden (Eisenbahnunternehmen und Infrastrukturbetreiber) bedeutet hätte. In Bezug auf die medial kolportieren neuen Wettbewerber aus China hielt es die Kommission für höchst unwahrscheinlich, dass diese in absehbarer Zukunft auf Siemens/Alstom ausreichend Wettbewerbsdruck ausüben würden. Siemens und Alstom seien bereits beide "Champions".

Initiative aus Berlin und Paris

Berlin und Paris hatten im Vorfeld der Entscheidung gegenüber der Kommission die Wichtigkeit einer Genehmigung aus industriepolitischen Gründen betont. Nachdem die Kommission die Fusion aber untersagte, bezog sich nicht nur der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier in seiner Nationalen Industriestrategie 2030 (von ihm betontermaßen als Entwurf zur Anregung eines Diskussionsprozesses vorgelegt) auf die Idee nationaler und europäischer Champions ("Größe zählt - Size Matters!"). Auch die Regierungen Deutschlands und Frankreichs verkündeten in einem französisch-deutschen Manifest für eine Europäische Industriepolitik im 21. Jahrhundert mehrere Vorschläge zur Stärkung der europäischen Industrie.

Angedacht wird dabei unter anderem eine Anpassung des europäischen Wettbewerbsrechts (des EU-Fusionskontrollsystems), um die Bildung von europäischen Champions im Sinne einer "European Champion Defense" zu ermöglichen. Europäische Unternehmen sollten dadurch die notwendige kritische Größe erreichen, um auf dem Weltmarkt vor allem gegen Großkonzerne aus den USA und China bestehen zu können. Dafür könne der materielle Prüfmaßstab gelockert und solle die Möglichkeit geprüft werden, dem Rat der EU die Möglichkeit einzuräumen, von der Kommission untersagte Fusionen aus (noch genau zu definierenden) industriepolitischen Gründen zu erlauben (im Sinne einer Ratserlaubnis).

Nationale Vorbilder

Die Idee einer solchen Ratserlaubnis ist nicht neu. Sie lehnt sich an das Institut der sogenannten Ministererlaubnis an, das man in mehreren EU-Mitgliedstaaten kennt. So kann etwa der deutsche Bundeswirtschaftsminister einen vom Bundeskartellamt untersagten Zusammenschluss im Falle von überwiegenden gesamtwirtschaftlichen Vorteilen oder einem überragenden Interesse der Allgemeinheit erlauben.

Die deutsche Ministererlaubnis ist jedoch keine Erfolgsgeschichte und erfreut sich keiner besonderen Beliebtheit (vor allem nicht bei den zuständigen Ministern). Sie wurde zuletzt in Zusammenhang mit der Fusion der Handelskette Edeka mit der deutschen Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann 2016 stark kritisiert - mit Verweis auf die mögliche Einflussnahme diverser Interessengruppen. Es überrascht daher einigermaßen, dass nunmehr ein solches Modell auch auf EU-Ebene andiskutiert werden soll.

Blickt man nach Österreich, so kennt das nationale Zusammenschlussrecht bereits eine Art "Austrian Champion Defense". Das Kartellgesetz ermöglicht es, eine grundsätzlich zu untersagende Fusion doch zu erlauben, wenn sie zu einer Verbesserung oder zum Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des fusionierten Unternehmens führt und volkswirtschaftlich gerechtfertigt ist. Die Entscheidung darüber fällt jedoch kein Minister, sondern die zuständige Behörde (Bundeswettbewerbsbehörde, Bundeskartellanwalt respektive das Kartellgericht) im Rahmen des üblichen Verfahrens. Wenngleich diese Bestimmung in der Praxis bisher keine nennenswerte Bedeutung erlangt hat, lohnt ein Blick darauf, wenn man die nunmehr initiierte Diskussion betrachtet.

Der Weg zum Ziel

Die Kritik an den deutsch-französischen Vorschlägen ließ nicht lange auf sich warten. So betonten namhafte Ökonomen in einem offenen Brief, dass bereits das aktuelle Wettbewerbsrecht der Bildung von nationalen oder europäischen Champions nicht entgegenstünde, solange eine Fusion ausreichend Synergien zwischen den fusionierenden Parteien bewirke. In Ermangelung derartiger Effizienzen würde sich auch nicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen.

Tatsächlich ist die von Deutschland und Frankreich angestoßene Diskussion dem Grunde nach zu begrüßen, allein der Weg zum Ziel sollte kritisch betrachtet werden. Das dahinter stehende Denken scheint sich gewissermaßen in die immer stärker werdende Tendenz der Abschottung und des Protektionismus einzureihen. Unzweifelhaft unterliegt die Wirtschaft aufgrund neuer, teilweise durch staatliche Finanzierung großgewordener Unternehmen aus China, der protektionistischen Handelspolitik durch die USA und nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung einem rasanten Wandel. Primär ist jedoch bezüglich der ersten beiden Entwicklungen wohl handelspolitisch gegenzusteuern (etwa durch Stärkung der Reziprozität) und täte man gut daran, Innovation und Wachstum, vor allem Start-ups, durch Deregulierung und Abbau bürokratischer Hürden zu fördern.

Das bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass man sich einer Reformdiskussion zum Wettbewerbsrecht verschließen sollte. Neben einer möglichen Erweiterung des Entscheidungsspielraums der Wettbewerbsbehörden bei der Berücksichtigung sich wandelnder Märkte wäre auch eine stärkere Betonung volkswirtschaftlicher und möglicherweise wohlfahrtsökonomischer positiver Auswirkungen anzudenken. Darunter könnten weitergehende Erleichterungen bei der Übernahme von insolventen oder kurz vor der Insolvenz stehender Unternehmen fallen (Ausweitung der "Sanierungsfusion"). Ein solcher Meinungsbildungsprozess sollte durchaus auch auf nationaler Ebene aus Kohärenzgründen geführt werden.

Konkret zur Idee der Schaffung von europäischen Champions wären dabei unter anderem folgende Fragen zu beantworten: Welche "Größe" sollte relevant sein? Sollte es auf das Vorliegen schierer Marktmacht/Finanzkraft ankommen oder vielmehr auf den Umfang von Innovationskraft? Inwiefern wäre die Idee von europäischen Champions mit dem Ziel eines funktionierenden Binnenmarkts vereinbar, das in Artikel 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU festgeschrieben ist? Würde in realpolitischer Hinsicht durch eine Ratsentscheidung nicht ein weiterer Nährboden für nationale Partikularinteressen geschaffen (wäre etwa die Schaffung eines europäischen Champions mit Sitz in Deutschland im Interesse aller anderen Mitgliedstaaten)? Und zu guter Letzt: Hat die Politik aus der vergangenen Finanzkrise die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen, dass Unternehmen, die "too big to fail" sind, ein systemisches Risiko mit sich bringen können?

Sofern am Ende eines solchen Meinungsbildungsprozesses Neuerungen des Wettbewerbsrechts stehen, sollten diese unseres Erachtens jedoch nicht durch den Rat der EU "über den Kopf der Kommission hinweg" angewendet werden. Vielmehr sollte das europäische Wettbewerbsrecht weiterhin von den zuständigen Behörden und Gerichten vollzogen werden. Sowohl auf EU- als auch nationaler Ebene (wie auch in Österreich) bestehen spezialisierte und qualifizierte Wettbewerbsbehörden und Gerichte. An deren alleiniger Zuständigkeit sollte nicht gerüttelt werden. Eine Präferenz dafür ließ selbst der deutsche Wirtschaftsminister Altmaier zuletzt auf der Internationalen Kartellkonferenz des Bundeskartellamtes in Berlin erkennen.