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Was bringt das Gesetz?

Von Alexander F. S. Putzendopler

Recht

Das geschriebene Gesetz ist keine Prämisse für Recht, das Rechtsgefühl mag aber ohne den Text nicht aufrechtzuerhalten sein.


"Manche Gesetze sind nicht aufgeschrieben, aber gültiger als die aufgeschriebenen." Dieses essenzielle Grundpostulat hat schon der römische Philosoph Seneca prägnant auf den Punkt gebracht. Diese ungeschriebenen Gesetze stellen quer durch Kulturen und Religionen die Eckpfeiler der menschlichen Spezies dar. So ist das grundsätzliche Unrecht des Tötens einem jeden Menschen inhärent bewusst und Teil der conditio humana, also der Natur des Menschen.

Nun ist es aber bekanntlich so, dass unsere Gesellschaften sich nicht auf einige (naturrechtliche) Grundprinzipien des Gemeinwesens verlassen, sondern bis ins kleinste Detail mittels geschriebenen - somit gesatzten - Rechtes den Versuch unternehmen, ein gedeihliches Zusammenleben zu schaffen.

Abseits von Sinn und Unsinn eines fein ziselierten Detailgrades der Gesetzgebung soll der Gedanke ins Rollen gebracht werden, wie das gesatzte Recht unsere Gesellschaft formt und welchen Einfluss es auf ihre Mitglieder hat.

Nun ist einem jeden von uns bekannt, dass Österreich ein "Rechtsstaat" ist, und man freut sich ob dieser Tatsache. Doch wäre unser Staat auch ohne Myriaden von Gesetzesbuchstaben weiterhin ein Rechtsstaat? Schon der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat in seiner "Kritik der reinen Vernunft - Transzendentale Methodenlehre", in völlig entwaffnender Klarheit festgehalten: ". . . noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriff von Recht."

Enges Netz aus Ursache, Wirkung und finaler Folge

Klarer kann man nicht formulieren, wie unklar der in seinem Grunde hoch diffuse Begriff des Rechtes eigentlich ist. Ein Staatengebilde ist natürlich auch dann ein Rechtsstaat, verfügt er über keinen Buchstaben an Gesetzeswortlaut. Es muss unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft lediglich Konsens darüber herrschen - "comme il faut". Ist einem jeden Bürger unabgesprochen bekannt und bewusst, dass Radfahren nur an Montagen erlaubt ist, widrigenfalls die Gemeinschaft zusammenbrechen würde, wäre die Norm klar, und jeder könnte sich an eben diese halten.

Nur was, führe ein liederlicher Lurch seinen Drahtesel am Dienstag spazieren? Genau für diese Grenzüberschreitung benötigt der moderne Mensch für gedeihliches Zusammenleben sowie das rechtliche Seelenheil die Möglichkeit, sich auf einen Gesetzestext zu berufen. So wäre das Radfahrgebot noch klar umrissen, doch sind die Folgen es nicht. Was tun, führe man am Dienstag oder - schlimmer - gar Mittwoch? Es ist gerade dieses enge Netz aus Ursache, Wirkung und finaler Folge, das jegliche menschliche Gemeinschaft aus dem Wort des Gesetzes gewoben hat, um sich darin fallenlassen zu können.

Erst durch einen geschriebenen Rückzugsort ist es dem Mitglied der Gemeinschaft sicher möglich, die Konsequenzen seines Tuns - zumindest in rechtlicher Hinsicht - abschätzen zu können. Dieses Konzept kann sodann von einem selbst auch auf die weiteren Zeitinsassen umgelegt werden, was (Rechtsbruch außen vor) zumindest im Normalzustand dazu führt, eine Grundprognose darüber abgeben zu können, wie dies und jenes im Zusammenleben vonstattengehen wird.

Der Mensch liebt die Konstante, die Stetigkeit. Somit ist es - die Geschichte zeigt es - wohl unumgänglich, Systeme von gesatztem Recht aufzustellen, um nicht nur den sozialen, sondern auch den inneren Frieden des Menschen herzustellen. Erst durch die Möglichkeit, sich am Anker des Wortes festzuhalten und somit Stabilität vorzufinden, gibt dem Normunterworfenen die so dringend benötigte Sicherheit in Bezug auf "was darf ich, was darfst du".

Ergo dessen mag man somit festhalten, dass das geschriebene Gesetz keine Prämisse für Recht ist, das Rechtsgefühl aber - nicht zu verwechseln mit Gerechtigkeitsgefühl - ohne den Text nicht aufrechtzuerhalten sein mag.

Abschließend zum Spannungsfeld Recht und Gerechtigkeit sei ein weiserer Mann als der Autor dieser Zeilen zitiert: "Das Recht ist kein logischer, sondern es ist ein Kraftbegriff. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit dem sie es behauptet. Das Schwert ohne die Waage ist die nackte Gewalt, die Waage ohne das Schwert die Ohnmacht des Rechts. Beide gehören zusammen, und ein vollkommener Rechtszustand herrscht nur da, wo die Kraft, mit der die Gerechtigkeit das Schwert führt, der Geschicklichkeit gleichkommt, mit der sie die Waage handhabt." (Rudolf von Jhering, "Der Kampf ums Recht")

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Dieser Gastkommentar ist auch im MKV-Magazin "Couleur" erschienen.

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