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Der Richter zwischen Recht und Gerechtigkeit

Von Janko Ferk

Recht
© adobe.stock/Tiko

Den (voll)souveränen Staat des 20. Jahrhunderts finden wir im vereinten Europa nicht mehr.


Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung die Angelegenheit einer geschlossenen Gesellschaft war, sind längst vorbei. Den (voll)souveränen Staat des zwanzigsten Jahrhunderts finden wir im vereinten Europa nicht mehr. Auch die Kernbereiche staatlicher Souveränität, wie etwa die Streitkräfte oder das Sozialsystem, sind europarechtlich kontaminiert. Die traditionellen Kategorien von Staat, Souveränität und Kompetenzverteilung haben sich auf unserem Kontinent in einem relevanten Ausmaß geändert, zumal wir den Abschied vom souveränen Nationalstaat und den Übergang zum supranationalen Zusammenschluss der Staaten Europas schon erlebt haben. Verinnerlicht haben wir diese Tatsache noch nicht, es ist aber auch der europäische Umwandlungsprozess noch nicht zur Gänze abgeschlossen.

Die Richter sind - als Staatsorgane - zwar nationale Hoheitsträger, sie sind jedoch nicht mehr ausschließlich dem nationalen Recht verpflichtet, sondern ebenso der supranationalen, autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union.

Denkt man über die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Rechtsprechung nach, kann heute die europäische Dimension nicht mehr ausgespart bleiben. Europa hat eine eigene Jurisdiktion, den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, dem die rechtsprechende Gewalt im Rahmen der Gemeinschaft anvertraut ist.

Rolle der nationalen Gerichtsbarkeit europäisiert

Mehr als die Hälfte der nationalen Gesetze beruht schon jetzt direkt oder indirekt auf Europarecht, und im wirtschaftsrechtlichen Bereich sind es nahezu 80 Prozent. Die Rolle der nationalen Gerichtsbarkeit hat sich europäisiert. Bis zur Vereinheitlichung eines europäischen Rechts wird es nicht nur einer Dynamik der Rechtsfortbildung, sondern auch der Gesellschaften bedürfen.

Der Ausgangspunkt jeder modernen Staatslehre und Machtstrukturierung ist die Trennung der drei Gewalten nach Legislative, Exekutive und Judikative. Nach Montesquieu, der in seinem Hauptwerk "De l’esprit des lois" (1748) die Gewaltenteilung erstmals zum Verfassungsgebot erhoben hat, muss der Staat in einem Gleichgewicht gehalten werden, in dem sich die drei Gewalten wechselseitig kontrollieren und beschränken.

Nun ist eine dieser Gewalten - als Trägerin einer Grundfunktion des Staats - die Judikative. Die Aufgabe des Gerichts ist die Rechtsprechung in Form der richterlichen, ausschließlich an Gesetz und Recht orientierten Entscheidung konkreter Fälle. Hier beginnen die Schwierigkeiten: Die Richter haben Lebenssachverhalte in all ihrer polychromen Vielfalt und multiplen Verschiedenheit unter abstrakt-generelle Normen zu subsumieren. Ihre Aufgabe ist es, dem (toten) Buchstaben einer Norm Leben in der (Rechts-)Wirklichkeit zu geben. Der Richter ist damit nicht nur Rechtsanwender, er verschafft dem Recht im konkreten Fall die letzte Autorität.

In Österreich hat sich vor einiger Zeit Theodor Tomandl mit der "Rolle der Richter" auseinandergesetzt. Er fragt nicht bloß rhetorisch, ob Richter nur Gesetzesbefehle ausführen oder ob sie Gesetze korrigieren dürfen. Eine Antwort gibt Helmut Coing, der meint, dass dem Richter eine mehrfache Aufgabe auferlegt sei. Er müsse über jeden Anspruch, der vor ihm geltend gemacht wird, entscheiden. Er könne es nicht - wie es dem römischen Geschworenen der klassischen Zeit möglich war - ablehnen, ein Urteil zu sprechen, weil er keine gesetzliche Norm finde. Die richterliche Aufgabe verbietet es, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Gerade dieses Verbot der Rechtsverweigerung gibt ihm die Kompetenz, das Recht fortzuentwickeln und Lücken - etwa durch Analogien - zu füllen.

Dem Richter ist die Gesetzesauslegung nicht nur erlaubt, sondern geboten, unterscheiden sich Naturgesetze von staatlichen Gesetzen doch im Besonderen durch ihre prinzipielle Auslegbarkeit. Die Richter stoßen bei ihrer Entscheidungsfindung nämlich immer auf Größen innerhalb eines Auslegungsspielraums. Der Richter hat innerhalb des Interpretationsrahmens durch Auslegung eine normative Aussage zu finden, die den konkreten Fall löst.

Tatsache ist, dass das Gesetz starr ist, das Leben aber - wie Heraklit sagt - fließt. Lebenssachverhalte entwickeln sich so, wie sie der Gesetzgeber nicht in seinen Vorstellungshorizont einbinden kann. Man denke hier nur an den Zivilrichter, der beispielsweise in einem Software-Fall unter Anwendung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, das seit dem 1. Jänner 1812 in Geltung steht, zu entscheiden hat.

Die Schwierigkeiten der Rechtswirklichkeit und Gerechtigkeit fangen schon bei der beruflichen Begriffsbestimmung an. Die (Berufs-)Richter stehen in einem ständigen Dienstverhältnis zum Staat, ohne Beamte zu sein. Ihre Sonderstellung ergibt sich aus der Unabhängigkeit, die ihnen die Bundesverfassung für die Ausübung ihres Amts zuerkennt. Der Richter hat eine besondere rechtliche Stellung. Die Bundesverfassung hebt ihn als Hauptorgan der Gerichtsbarkeit hervor, dem weder individuelle noch generelle, weder konkrete noch abstrakte Weisungen - wie sie im Artikel 20 Bundes-Verfassungsgesetz für die Organwalter der Verwaltung vorgesehen sind - gegeben werden können.

Unabhängigkeit bedeutet nicht Entscheidungsfreiheit

Zu bedenken ist hier mindestens zweierlei: Einerseits kann nur eine solche Person Recht sprechen, die sich tatsächlich als unabhängig betrachten kann, die vor jedweder Einflussnahme geschützt ist und daher ohne Ansehen der Person judizieren kann. Zu bedenken ist, dass Unabhängigkeit nicht Entscheidungsfreiheit bedeutet, sondern ausschließliche Bindung an das Gesetz.

Andererseits darf keinesfalls übersehen werden, dass die richterliche Unabhängigkeit (die Rechtswissenschaft nennt sie auch den Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte) - neben weiteren Merkmalen wie den Grundrechten, der Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit staatlicher Machtäußerungen - zu den Kennzeichen des Rechtsstaats gehört.

Die Unabhängigkeit ist daher nicht ein Privileg der Rechtsprecher, sondern ausschließlich der Rechtssuchenden.

Die Richterin und der Richter sind in der Entscheidungsfindung an Gesetz und Recht gebunden. Bei ihrer Arbeit stehen sie in einem Spannungsverhältnis zwischen diesen Phänomenen; nicht zu übersehen ist das Erfordernis der Gerechtigkeit.

Wo liegen nun die Grenzen, die dem Richter bei seiner Entscheidungsfindung gesetzt sind. Die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben zwei Methoden der Rechtsfindung entwickelt, nämlich die Instrumente der Auslegung und Rechtsfortbildung.

Bei der Auslegung ist es die Aufgabe des Richters, der Intention des Gesetzgebers in der Rechtswirklichkeit Wirkung zu verleihen, soweit diese Absicht im Gesetz ihren Rückhalt findet.

Diffiziler ist die Frage der Rechtsfortbildung, zumal die Auslegung der Gesetze allgemein gültigen oder juristisch anerkannten Regeln folgt. Die Kompetenz des Richters, das Recht bei Gesetzeslücken fortzubilden, steht außer Streit. Es ist seine Pflicht, eine Gesetzeslücke zu füllen, da er es nicht ablehnen kann, ein Urteil zu sprechen, weil er keine Norm finde. Der Richterin und dem Richter kommt die Kompetenz zu, das Recht fortzuentwickeln und Lücken - beispielsweise durch Analogien - zu füllen.

In der zeitgenössischen rechtsphilosophischen Diskussion ist es unbestritten, dass der Richter in Ausnahmefällen eine Rechtsfortbildung auch praeter legem bewirken kann. Hier sei zum Verständnis auf die Gerechtigkeitsvorstellung einer gewandelten Gesellschaft verwiesen, da der größte Revolutionär des Rechts wohl der Wertewandel in der Gesellschaft ist, woraus für den rechtsphilosophisch denkenden Juristen eindeutig folgt, dass die Gesellschaft im Lauf der Zeit von vielem revolutioniert, aber nicht zur Revolution gebracht wird.

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