Zum Hauptinhalt springen

Panoptikum rechtlicher Problemkreise

Von Nikolaus Lehner

Recht

Alfred J. Nolls neues Buch "Alles, was geschieht, geschieht mit Recht" bezieht sich auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge von Eigentum, Demokratie, Justiz und Sicherheit.


Es ist unglaublich, was ein erfolgreicher Anwalt, ein passionierter (Frei-) Zeitpolitiker und unerschöpflicher Publizist so alles gelesen hat. Es handelt sich um weit gefächerte Literatur von Rechtswissenschaft (auch in ihren historischen und internationalen Dimensionen) bis hin zu weitergreifenden sozialwissenschaftlichen Grundlagen.

Und nie zitiert Alfred J. Noll bloß ad ostentationem, weil jedes seiner oft ausladenden Zitate die juristischen, staatswissenschaftlichen und politologischen Topoi erklärt, die den Inhalt des Werkes ausmachen.

So auch in seinem neuesten Werk: "Alles, was geschieht, geschieht mit Recht". In Abwandlung des vom Verfasser vorangestellten Hegel-Zitates gilt für Noll: Man soll nicht bloß Jurist, sondern auch homme des lettres et des sciences sein. Für jeden von uns nicht leicht - Noll schafft es.

Der Titel des Buches ist eine Rezeption des Kanons "Selbstbetrachtungen" von Marc Aurel und ist die Fortsetzung seines von mir bereits 2019 besprochenen Buches "Wie das Recht in die Welt kommt. Von den Anfängen bis zur Entstehung der Städte". Dieser Band folgte noch einer chronologischen Darstellung. Wegen des ungeheuren Umfanges des von mir hier besprochenen Bandes von Noll werde ich nur noch die wesentlichsten Themen schwerpunktmäßig behandeln.

Noll rezipiert mehr die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge als die juristische Analyse. Er betont in aller Bescheidenheit, dass Zweck dieses Buches nicht die Forschung ist, und er nimmt auch nicht für sich in Anspruch, "Beweise" zu liefern. Er definiert sein Buch als einen Versuch eines kompakten Panoptikums rechtlicher Problemkreise wie Eigentum, Demokratie, Justiz und Sicherheit. Wer die perfekte Sprachkompetenz von Noll aus seinen anderen Werken kennt, gibt ihm recht, wenn er in seinem Vorwort diesmal auf die leichtere Lesbarkeit verweist. Noll zitiert viele bekannte Philosophen und Rechtswissenschafter und rezipiert abschließend einen römischen Rechtsgelehrten mit "scribant religua potiores" in seiner römischen Geschichte.

Letztlich entscheiden Richter, was das Parlament darf

Es wäre nicht Noll, wenn er sich nicht bereits beim Beginn des Kapitels Eigentum auf Thomas Hobbes bezieht, der übrigens in Reflexion der "Bibliothek Noll" einer seiner Lieblinge ist, weil er sich schon öfters mit diesem Herrn auseinandergesetzt hat. Im Hinblick auf die räumliche Beschränktheit für den Rezensenten überspringe ich in meiner Besprechung die von Noll zu Recht behauptete Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts beim Eigentumsbegriff. Noll bezieht sich aber nicht nur auf Hobbes, sondern auch immer wieder auf Hegel.

Im Kapitel "Höchstgerichtsbarkeit und Justiz" stellt Noll fest, dass wie das Amen im Gebet zum Rechtsstaat die Suprematie des Verfassungsgerichtes über das Parlament zu sehen ist. Es gibt bei diesem komplexen Diskurs kein klares Ergebnis. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat sich in der Realität durchgesetzt. Letztlich entscheiden also Richter, was das Parlament darf. Daher ist jeder Akt der Gesetzgebung vom Höchstgericht am Maßstab der Verfassung zu prüfen, das heißt, was die Verfassung ist und was sie gebietet, wird also von Richtern entschieden, obwohl doch die Verfassungsgebung selbst nachweislich einen politischen Akt darstellt.

Öffentliche Problematik "politischer Entscheidungen"

Für den Begriff "politisch" zählen nach Noll sechs verschiedene Bedeutungsinhalte, also kann "politisch" als Teil des politischen Systems gemeint sein. "Politisch" kann aber auch bedeuten, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichtes mit der Verteilung von Macht, Freiheit und Ressourcen in einem Staat indiziert sind. "Politisch" kann man aber auch subsumieren, in direkter politischer Wechselwirkung mit Akteuren zu stehen. Politik bezieht sich ja nicht nur auf die großen Gesellschaftsprozesse, sondern auch auf das alltägliche Leben. Auch wenn die Verfassungsrichter immer versuchen, neutral und unparteiisch zu sein, entkommen sie nicht ihrer sozial- und kulturell fixierten Voreingenommenheit und einem bestimmten, sei es konservativen, sei es aufgeklärtem Verständnis ihres Amts als Verfassungsrichter.

Noll vermutet meines Erachtens zu Recht die öffentliche Problematik sogenannter "politischer" Entscheidungen. Die fünfte politische Lesart kann aber auch semantisch den Sinn geben, bei der Entscheidungsfindung ganz bewusst von ideologischen oder moralischen Beweggründen motiviert zu sein. Letztlich kann "politisch" aber auch bedeuten, bei der Arbeit als Verfassungsrichter so motiviert zu sein, um im Amt zu bleiben.

Im Kontext dieser Narrative schreibt Noll für mich zu unscharf, dass "die höchstrichterliche Tätigkeit immer politisch ist". Der Verfassungsgerichtshof ist jedoch kein Höchstgericht der "Justiz im engeren Sinn", das ist, im Sinne der Gewaltenteilung, nur der Oberste Gerichtshof. Noll bezieht sich auf Hans Kelsen, der wohl zu Recht als wichtigster Interpret dieser Problematik genannt werden kann. Völlig unrealistisch liegt Noll meines Erachtens, wenn er die Forderung aufstellt, die politischen Parteien sollten nicht länger verschweigen, aus welchen Motiven sie eine bestimmte Person als Richter für den Verfassungsgerichtshof namhaft machen, abgesehen davon sind die Motive gemeinhin offensichtlich. Sehr kritisch sehe ich daher Nolls Konnotation, wenn er ganz allgemein eine unpolitische Justiz fordert, weil die "Justiz im engeren Sinn" in Österreich jedenfalls unpolitisch ist, während die "Justiz im weiteren Sinn" - nämlich der Verfassungsgerichtshof - häufig politisch entscheidet. Dazu als Entität die Festschrift zum 60. Geburtstag von Noll im Journal für Rechtspolitik, insbesondere der Beitrag von Michael Holoubek.

Zwischen "Freiheit und Sicherheit"

Sowohl in der Justiz wie auch in der Gesellschaft liegt eine zunehmende Diskrepanz zwischen den bisherigen Berufsbildern und der veränderten beruflichen Wirklichkeit. Noll stellt die rein rhetorische Frage in den Raum, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit besser sein sollte als die Verfassung selbst. Noll kann/will nicht verleugnen, selbst auch politisch zu denken.

Schmunzeln musste ich beim Zitat von Johann Wolfgang von Goethe, der die Gesetzesflut schon zu seiner Zeit angeprangert hat: "Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man keine Zeit, sie zu übertreten."

Über weite Teile des Buches zieht sich wie ein roter Faden die Auseinandersetzung mit der Dichotomie zwischen "Freiheit und Sicherheit". Ein ewiges Problem des law enforcement, das wahrscheinlich nur über die delikate Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gelöst werden kann.

"Licet sapere sine pompa, sine invidia" trägt Seneca seinem Neffen Lucilius auf ("Es ist möglich, ohne Gepränge und ohne Missgunst weise zu sein"). Für Noll trifft dies haarscharf zu.

Sie sind anderer Meinung?

Diskutieren Sie mit: Online unter www.wienerzeitung.at/recht oder unter recht@wienerzeitung.at

Vor fast genau einem Jahr erschien an dieser Stelle Nikolaus Lehners Rezension von Alfred J. Nolls Buch
"Wie das Recht in die Welt kommt".
https://bit.ly/2USfZUK