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25 Jahre EU: Wohin soll die Reise gehen?

Von Michael Enzinger

Recht
© adobe.stock/weyo

Eine aus rein ökonomischen Motiven getriebene Deregulierung des Marktes für Rechtsdienstleistungen ist abzulehnen.


Vor 25 Jahren ist Österreich der Europäischen Union beigetreten. Der Beitrittsvertrag wurde am 24. Juni 1994 in Korfu durch den damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock unterschrieben und mit einem Busserl an Gitti Ederer besiegelt. Dem vorausgegangen war eine wegen des Beitritts notwendige Änderung des B-VG, die erstmals in der Geschichte der 1. und 2. Republik als Gesamtänderung der Bundesverfassung zu qualifizieren war. Die in diesem Zusammenhang abgehaltene Volksabstimmung am 12. Juni endete mit überwältigender Mehrheit von mehr als 66 Prozent.

1995 war Klaus Hoffmann Kammerpräsident. In den Sitzungen des Ausschusses wurde damals auch die Sorge artikuliert, wie sich die Öffnung im Dienstleistungsbereich auf die Rechtsanwaltschaft in Wien und in Österreich auswirken wird. Aus heutiger Sicht können wir feststellen, dass die meisten Sorgen unbegründet waren. Österreich wurde weder überschwemmt durch niedergelassene europäische Anwälte, noch durch ausländische große Sozietäten an die Wand gedrückt. Es gibt vielmehr eine Art innereuropäische Globalisierung. Sie hat neue Geschäftsfelder bewirkt, und die Tätigkeit österreichischer Rechtsanwälte hat sich internationalisiert.

Zu Lasten der Rechtsstaatlichkeit

Müssen wir uns aber vor weiteren Deregulierungsinitiativen aus Brüssel fürchten? Die Antwort lautet: Die Bürgerinnen und Bürger haben Anspruch auf die beste Vertretung und Verteidigung ihrer Interessen. Deregulierung geht zu Lasten der Rechtsstaatlichkeit. Die Anwaltschaft lehnt daher eine aus rein ökonomischen Motiven getriebene (weitere) Deregulierung des Marktes für Rechtsdienstleistungen ab.

Vor 25 Jahren war Krieg am Balkan. Die seit wenigen Wochen im Amt befindliche Justizministerin kam damals im Alter von zehn Jahren als Flüchtling aus Bosnien nach Österreich, weil die Balkanroute damals nicht gesperrt war. Ihre Angelobung als Rechtsanwältin vor circa vier Jahren zeigt eindrucksvoll, wie Integration ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft sein kann, welchen Stellenwert Rechtsanwältinnen in der Anwaltschaft haben und welchen Wert der europäische Gedanke als Friedensprojekt hat.

Die Bundesministerin hat aber von ihrem Vorgänger im Amt einen schweren Rucksack übergeben erhalten. Die im Wahrnehmungsbericht aufgelisteten Fakten sind wahrlich kein Aushängeschild für die Rechtsstaatlichkeit. Die Justiz ist eine wesentliche Staatsaufgabe und darf nicht über den Umweg der Gerichtsgebühren zur Querfinanzierung anderer Staatsaufgaben verwendet werden. Mehr als 6000 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Österreich und mehr als die Hälfte davon in der Rechtsanwaltskammer (RAK) Wien ziehen tagtäglich in den Gerichtssälen und den Kanzleien für den Rechtsstaat ins Feld. Wir werden nicht zulassen, dass die Justiz einen stillen Tod stirbt.

Die Anwaltschaft versteht sich auch seit jeher als Verteidigerin gegen Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte. Daran hat sich trotz EU bis heute nichts geändert. Dass der Bundestrojaner oder die lückenlose Erfassung von Pkw-Kennzeichen vom Verfassungsgerichtshof zu Fall gebracht wurde, ist mithin auch ein Verdienst der Anwaltschaft. Selbst wenn die Einführung einer Sicherheitsverwahrung für bestimmte Personengruppen, so wie dies im Regierungsprogramm angekündigt ist, verfassungsrechtlich vielleicht möglich sein sollte, kann jedenfalls mit Sicherheit gesagt werden, dass absolute Sicherheit niemals gewährleistet werden kann.

Es geht daher nicht um die Schließung von Lücken in der Verfassung oder auf einfach gesetzlicher Ebene, sondern darum, dass ein derart genereller Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte nicht verhältnismäßig sein kann. Nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist auch gesellschaftspolitisch gut und wünschenswert. Der Begriff "Sicherheitsverwahrung" ist darüber hinaus negativ konnotiert, weil damit zuletzt unter dem NS-Regime unliebsame Bürgerinnen und Bürger aus rein politischen Gründen aus dem Verkehr gezogen wurden.

Die Anwaltschaft hat auch Defizite an Rechtsstaatlichkeit im Zusammenhang mit dem Phänomen "Hass im Netz" diagnostiziert. Die Meinungsäußerungsfreiheit darf auch in sozialen Medien nicht missbraucht werden, wenn ehrenrührige, hetzerische, rassistische Behauptungen urbi et orbi verbreitet werden. Die Anwaltschaft unterstützt daher das Anliegen der Ministerin, die Rechte der Betroffenen gegen derartige Angriffe besser zu schützen; sei es durch effizientere Ermittlungsmöglichkeiten zur Ausforschung der Urheber oder Änderungen in der Beweislast. Hier besteht Handlungsbedarf des Gesetzgebers.

Für Unabhängigkeit eintreten

Auch standespolitisch bringen die nächsten Jahre große Herausforderungen. Legal Tech und Anwaltsvorbehalt sind ebenso standespolitisch zu bewerten, wie die Sicherheit behördeninterner Netzwerke gegenüber Hackerangriffen und damit der Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung. Auch die langfristige Absicherung der Altersversorgung ist nicht nur ein Problem jeder Bundesregierung, sondern ein eminent standespolitisches Thema. Es gilt abzuwägen, was angesichts der Budgetsituation dieser und künftiger Regierungen die eigenverantwortliche, nämlich standesautonome Sicherung der Altersversorgung wert ist und wie dieser Wert im Rahmen des Generationenvertrages auch für nachfolgende Anwaltsgenerationen erhalten werden kann.

Wir haben insoweit nicht nur einen versicherungsmathematischen, sondern standespolitisch hoch sensiblen Diskussionsprozess. Die Unabhängigkeit der Rechtsanwaltschaft von jeder staatlichen Einflussnahme - auch in wirtschaftlicher Hinsicht - ist eine der Säulen der Rechtsstaatlichkeit. Für sie lohnt es sich, einzutreten.

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